Zeitriss: Thriller (German Edition)
»Ihr Hass ist zügellos, ihre Zerstörungswut grenzenlos. Tag für Tag werden sie zum Aufruhr angestachelt, und wenn der Funke einmal übergesprungen ist, geht alles in die Luft.« Wilson hielt inne. Die besänftigenden Melodien von Strauß klangen im Hintergrund. »Wenn die britische Botschaft fällt, fallen alle. Sie könnten ein Held werden, wenn Sie die Verteidigung verstärken und alle britischen Bürger auf das Gelände rufen; wenn Sie aber gar nichts tun, setzen Sie alles aufs Spiel. In dieser Stunde werden in Shantung Missionare gefoltert und getötet, sogar Frauen und Kinder. Die chinesischen Christen teilen ihr Schicksal zu Tausenden. Bis zum Ende dieser Woche wird es in den Straßen Pekings zu ausländerfeindlichen Unruhen kommen. Aber Sie schwelgen in Selbstzufriedenheit. Sie müssen handeln, Exzellenz! Und zwar umgehend!«
Sir Claude war wie vom Donner gerührt. »Sie wagen es, so mit mir zu reden?«, empörte er sich dann. »Sie stehen in meinem Haus, Sir!«
Captain McCalla war von Wilsons Ausbruch sprachlos.
»Ich möchte Sie gern mit meiner Frau bekannt machen«, sagte Conger und schob Wilson hastig auf eine größere Gruppe in einer Ecke zu. »Sie möchte Ihnen persönlich danken, weil Sie uns zu Hilfe gekommen sind. Ah, gut, Baron von Ketteler ist auch dort, der deutsche Botschafter. Es lohnt sich, ihn kennenzulernen – ein toller Bursche, auf den man sich im Kampf verlassen kann.«
Wilson wusste genau, wer er war und was ihm in Kürze zustoßen würde. »Freut mich sehr, Baron«, sagte Wilson und gab ihm die Hand.
»Ihre Anwesenheit wird hier sehr begrüßt!«, meinte der Baron mit starkem deutschem Akzent. »Meine Leute setzen großes Vertrauen in Sie. Das ist ungewöhnlich – sie trauen sonst nur Deutschen!« Er lachte schallend.
Während sie so weiterscherzten, wanderten Wilsons Gedanken zu Randall Chen. Er stellte sich vor, wie es sein würde, ihn wiederzusehen. Der Boxeraufstand würde zusammenbrechen, sobald der Meister in der Gleichung fehlte. Leider dauerte es noch eine Weile, bis er sich mit seinem einstigen Schützling befassen konnte. Und die Gelegenheit ergäbe sich erst, wenn die Botschaften einem grimmigen, pausenlosen Ansturm standgehalten hätten.
»Das ist Polly Smith«, sagte Conger und stellte ihm eine hübsche junge Frau im blauen Ballkleid vor. »Sie ist die Nichte des Präsidenten des Obersten Bundesgerichts der Vereinigten Staaten.«
Sie wäre besser nicht hier, dachte Wilson.
»Das ist Wilson Dowling«, fuhr Conger fort. »Ein Australier und wie George Morrison ein Mann, der keine Angst hat, seine Meinung zu äußern. Er ist der oberste Berater von General Gaselee.«
»Freut mich, Sie kennenzulernen«, sagte Wilson und verbeugte sich höflich. »Was bringt Sie nach Peking, Miss Smith?«
»Das Abenteuer natürlich«, antwortete sie mit einem Funkeln in den Augen.
Wilson war nicht überrascht. Offenbar hatten diese behüteten Ausländer keine Ahnung, in welcher Gefahr sie schwebten. Es kam ihnen nicht in den Sinn, dass ihnen eine blutige Belagerung bevorstand. Die würde so sicher folgen wie die Nacht auf den Tag.
54.
Peking, China
Tatarenstadt
Britische Botschaft
20. Juni 1900
Ortszeit: 9.05 Uhr
Kurz nach neun Uhr machte sich Baron von Ketteler furchtlos mit einer Sänfte auf den Weg zum Außenministerium, um seine Beschwerden dem Minister persönlich vorzutragen. Er war vollkommen aufgebracht über das Treiben der Boxer und wollte das sofortige Einschreiten von höchster Stelle fordern. Wie Wilson wusste, würde er leider zehn Minuten, nachdem er die Sicherheit des Gesandtschaftsviertels verlassen hätte, von einem chinesischen Soldaten aus nächster Nähe erschossen werden. Das wäre der Beginn der Belagerung.
Wilson hatte in den letzten drei Wochen viele Stunden mit dem Baron verbracht, und darum fiel es ihm schwer, wortlos zuzusehen, wie er das Gelände verließ. Doch Wilson hatte keine andere Wahl, als die Geschichte ihren Lauf nehmen zu lassen. Der deutsche Botschafter wusste nicht viel von den chinesischen Sitten und behandelte die Einheimischen nach Wilsons Meinung wie Hunde, doch er war ein aufrechter Patriot und verdiente es nicht, auf diese Weise zu sterben.
Vor seiner Ankunft in Peking – bei seinen vielen Gesprächen mit Lieutenant-General Gaselee – hatte Wilson die Ereignisse genau vorausgesagt, auch die Ermordung des deutschen Botschafters. Damit hatte er eine bemerkenswerte Kenntnis der Zukunft bewiesen. Nachdem er Gaselee einen
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