Zeitriss: Thriller (German Edition)
eilte die Treppe hinab.
Die Residenz des Botschafters war ein prächtiges chinesisches Bauwerk mit drei Etagen und grünen Dachziegeln, die bedeuteten, dass es von einem hochrangigen Beamten bewohnt wurde. Auf der Säulenveranda saß ein Streichquartett, drei Herren und eine Dame, die Beethoven spielten, und das sehr gut. Vom Ballsaal führten große Flügeltüren nach draußen, wo wenigstens vierzig männliche Gäste aller Nationalitäten im Smoking oder in Galauniform standen. Die Damen zählten etwa fünfundzwanzig und trugen üppige, farbenprächtige Abendkleider, viele hielten auch Fächer in der Hand, um sich das Gesicht zu kühlen. Chinesische Diener in weißen Anzügen gingen mit Silbertabletts herum, auf denen sie kühlen Champagner und Kanapees anboten. Es brannten hundert oder mehr Petroleumlampen, die mit ihrem flackernden Licht die luftige Höhe der Decken unterstrichen. Draußen im Garten hingen noch einmal ebenso viele rosafarbene Papierlaternen in den Bäumen.
Was Wilson am meisten überraschte, war die heitere, entspannte Haltung der Gäste; sie schienen die Lage jenseits der Grundstücksmauer überhaupt nicht zu beachten.
Captain McCalla führte ihn zu Sir Claude MacDonald, dem britischen Botschafter. Wilson kannte seinen Ruf. Neben diesem stand der amerikanische Botschafter, Edwin Conger, ein imposanter, bärtiger Bürgerkriegsveteran und ehemaliger Kongressabgeordneter, dem Captain McCalla unterstellt war.
»Wie ich höre«, sagte Sir Claude bei der Begrüßung, »sind Sie der Grund, dass so viele unserer Soldaten hier sind, um uns zu schützen.« Er war ein glatt rasierter, soldatisch wirkender Mann von fünfunddreißig mit einem gezwirbelten Schnurrbart, der seitlich über die Ohren hinausragte. An der Brust hatte er nicht weniger als sechs Orden, einschließlich der Egypt Medal, und Königin Victorias Auszeichnung, die ihn als Botschafter auswies.
»Wir hatten Glück, dass wir durchgekommen sind«, erklärte Wilson beim Händeschütteln.
»Offenbar waren die Sandstürme um Tientsin abscheulich«, erzählte Sir Claude. »Ich hörte einen der Offiziere sagen, er werde noch eine Woche lang husten.«
»Der Sand war meine geringste Sorge«, erwiderte Wilson.
»Sie hätten sich bei uns ankündigen können«, meinte Conger, der mit seinem Yankee-Akzent völlig aus dem Rahmen fiel. Er gab Wilson einen sehr kräftigen Handschlag. »Dann hätten wir eine Riesenfeier für unsere Soldaten abhalten können.«
»Das ist kein Augenblick zum Feiern«, widersprach Wilson ernst.
»In den Briefen, die wir von General Gaselee und Admiral Seymour erhalten haben, werden Sie für Ihre Führung und Tüchtigkeit mit Lob überhäuft«, fügte Sir Claude hinzu. »Sie seien ein Geschenk des Himmels, nichts weniger.«
»Sie sind bescheiden«, erwiderte Wilson. »Wie alle Führer der Acht-Nationen-Allianz erkennen sie die Gefahr, die hier in der Luft liegt.«
»Und Sie teilen ihre Befürchtungen?«
»Für uns ist es in Peking jetzt gefährlicher als je zuvor«, erklärte Wilson. »Gefährlicher als an jedem anderen Ort der Welt, schätze ich.«
»Was hoffentlich stark übertrieben ist, doch wir sind zweifellos dankbar, dass Sie uns heute so viele Soldaten mitgebracht haben«, sagte Conger. »Ich gebe zu, es hat mich überrascht, dass Sie ungehindert nach Peking hineingelangen konnten. Das chinesische Außenministerium hat uns mitgeteilt, dass keine weiteren Truppen zugelassen werden.«
»Aber wir werden sie nicht wieder hergeben«, meinte Sir Claude lachend, »selbst wenn das Außenministerium es verlangen sollte, nicht wahr!«
Wilson ging auf seine Heiterkeit nicht ein. »Ich habe General Gaselee geraten, von jetzt an nicht mehr den Telegrafen zu benutzen, um vertrauliche Informationen zu übermitteln. Besonders nicht, wenn es um Truppenbewegungen geht.«
Conger rückte näher heran. »Sie vermuten falsches Spiel?«
»Vorsicht ist unbedingt geboten«, antwortete Wilson.
»Unsere Nachrichten können unmöglich abgefangen werden«, meinte Sir Claude abfällig. »Wir haben die weltbeste Technik hier in Peking. Die Chinesen sind ein rückständiges Volk. Wie die Boxer halten sie mehr von Aberglauben und Tamtam als von allem anderen. Sie glauben sogar, sie könnten Kugeln mit bloßen Händen auffangen, du lieber Himmel!«
»Sie haben von diesen Gerüchten gehört?«, fragte Wilson.
»Das weiß ganz Peking«, erzählte Conger. »Da gibt es einen Mann, den die Boxer den Meister nennen, und es heißt, dass
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