Zeitriss: Thriller (German Edition)
Männer weinten, rannten ziellos umher und hatten allen Sinn für Disziplin verloren.
»Die französische Botschaft wird nicht standhalten«, sagte Wilson schließlich. »Wir müssen die überlebenden Italiener und die Franzosen dort an dieser Mauer entlang verteilen.« Er zeigte hinter sich zur deutschen Gesandtschaft. »Sonst haben wir keine Chance.«
»Das wird den Franzosen nicht gefallen«, meinte Sir Claude. »Das ist französischer Boden.«
»Dann bleibt ihnen nur übrig, hier zu sterben«, erwiderte Wilson. »Sobald das Feuer heruntergebrannt ist, werden die Boxer in noch größerer Zahl angreifen. Die Gatling sollte von der amerikanischen Botschaft zur deutschen gebracht und auf der Mauer postiert werden.« Er zeigte auf eine erhöhte Kanzel, die wegen des steilen Winkels von der Artillerie nicht leicht zu treffen sein würde. »Wenn wir das Gelände im Südosten halten wollen, müssen wir uns ein Stück zurückziehen.«
»Sind Sie sicher, dass wir die Mauer nicht halten können?«, fragte Morrison.
»Wir müssen uns zurückziehen«, bekräftige Wilson. »Die deutsche Botschaft ist höher und stärker – und das französische Grundstück ist übersichtlicher, das wird unser Vorteil sein. Wenn wir hierbleiben, verlieren wir Leute bei einem nutzlosen Kampf, die uns dann bei der Verteidigung der deutschen Botschaft fehlen.«
Von weitem drang das skandierende »Sha! Sha! Sha!« durch das Fauchen und Prasseln des Feuers. Wilson beobachtete, wie die vielen Rauchwolken in der heißen Luft wogten. Der auffrischende Wind trieb sie über die Stadt.
»Das wird ein schrecklicher Tag, und die Nacht nicht minder«, meinte er.
»Ich habe Sie das zwar schon einmal gefragt«, sagte Morrison, »aber wieso sind Sie sich bei allem so sicher? Sie klingen immer, als könnten Sie in die Zukunft sehen.«
»Ja«, bekräftigte Sir Claude. »Woher haben Sie eigentlich Ihr Wissen?«
»Ich berate Sie genau nach den Anweisungen von General Gaselee«, antwortete Wilson. »Das ist nicht meine Weisheit, sondern seine.«
»Aber dann würde er doch hier stehen und den Ruhm selbst einstreichen«, scherzte Morrison. »Nun ja, offensichtlich ist er viel zu beschäftigt damit, Admiral Seymour zu beraten.«
Wilson ließ sich auf Witzeleien nicht ein. »Die Situation ist grausig, und wir müssen auf das Wesentliche konzentriert bleiben. Das Wichtigste ist, die Kampfmoral der Verteidigung zu stärken. Für Angst ist kein Platz in solch einer Lage. Sorgen Sie für eine angemessene Ablösung, damit die Leute frisch bleiben, und uns darf nirgendwo die Munition ausgehen. Denn wenn das passiert, werden wir mühelos überrannt.«
»Ich habe schon Befehl gegeben, dass Männer und Waffen jederzeit in der Lage sein müssen, den Standort zu wechseln«, sagte Sir Claude. »Alle wissen, wie ernst es steht.«
In der Ferne feuerten schwere Geschütze, dann folgte das typische Pfeifen von Granaten. Sie flogen auf die französische Botschaft zu. Sir Claude und Morrison warfen sich zu Boden, ebenso alle anderen Männer auf der Mauer – nur Wilson blieb stehen, um die Flugbahn des Geschosses zu verfolgen. Er konnte sich von dem Anblick nicht losreißen. Der Luftzug der Granate zerzauste ihm die Haare, als sie nur knapp entfernt an ihm vorbeisauste.
Morrison griff nach oben und zerrte Wilson auf die Steine. In dem Moment landete das Geschoss auf dem Grundstück neben ihnen und explodierte mit donnerndem Knall.
»Sind Sie verrückt?«, brüllte Sir Claude.
Wilson stand auf und klopfte sich den Staub ab. »Das Nachbargrundstück ist groß und kann ohne Schwierigkeiten bombardiert werden. Noch ein Grund, den Standort zu wechseln.«
»Möchten Sie gern sterben?«, fragte Sir Claude aufgebracht. »Sie haben zugeguckt, wie die Granate auf Sie zuflog! Sie hätte schon im Flug explodieren können, müssen Sie wissen!«
»Wir waren nicht in Gefahr«, widersprach Wilson ruhig.
»Woher wollen Sie das denn wissen?«, schrie der Botschafter erbost.
Die Boxer sammelten sich bereits zu einem Angriff auf das Haupttor, als der Beschuss abflaute. »Kommen Sie«, sagte Morrison auf die Leiter zeigend, »wir sollten weg, bevor wir hier womöglich gleich festsitzen.« Und er schrie in Französisch den Soldaten zu: »Rückzug! Alle Mann zur Mauer der deutschen Botschaft!«
Wilson sah zu, wie Sir Claude und die französischen Soldaten hastig die Leitern herunterrutschten, und überquerte dann rennend das Botschaftsgelände. Die erste Schar von Boxern stürmte auf das
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