Zeitriss: Thriller (German Edition)
Eigeninteressen. Sie handelten, um ihre Lebenslage zu verbessern. Selten taten sie etwas darüber hinaus. GM war in dieser Hinsicht genauso. Es gab also eigentlich keinen Grund, auf ihn sauer zu sein. Und in der gleichen Situation mit der gleichen Macht würde Wilson vielleicht ebenso handeln. Er wollte sich gern einreden, er sei reifer – wenn seine Zeit zu sterben käme, würde er das als natürlichen Kreislauf ansehen und zufrieden und in dem Wissen gehen, dass er ein ehrliches Leben geführt und sein Vermögen durch harte Arbeit und Überzeugung gewonnen hatte.
Er richtete den Blick auf die Scheibe und sah sein Spiegelbild. Da stand er in einer schwarzen Uniform des Mercury-Teams. Ein Anblick, der die meisten Menschen stolz gemacht hätte, doch er fand ihn ernüchternd. Eigeninteresse war die Triebkraft von allem, erkannte er. Wem wollte er etwas vormachen? Würde man ihm die Möglichkeit geben, würde auch er alles tun, um zurückzubekommen, was er verloren hatte. Denn es gefiel ihm ganz bestimmt nicht, was aus ihm geworden war, und jeder andere Platz auf der Welt erschien ihm besser. Vielleicht war es aber auch nur so, dass er Helena vermisste. Doch das wollte er sich im Grunde nicht eingestehen, denn es verdeutlichte nur, wie verkorkst seine Lage tatsächlich war. Er konnte sie nicht wiedersehen – das Zeitreisen gab es nur zu einem einzigen Zweck: für die Erfüllung der Aufträge aus dem Alten Testament.
Du kannst nicht zurück, sagte er sich.
Aus dem Blätterdach des Waldes kam ein kleiner Vogel direkt auf das Fenster zugeflogen. Das braun-weiße Geschöpf war fünfzehn Zentimeter groß und bewegte sich schnell und wendig. Kopf, Schwanz und Flügelränder waren dunkelbraun, die Kehle und Bauchpartie weiß. Das Tier flatterte vor der Scheibe auf der Stelle und sah aus, als ob es sein Spiegelbild betrachtete.
Es war ein Marmelalk, der vom Aussterben bedrohte Seevogel, der in den Mammutbäumen Nordkaliforniens nistete. Er vollführte rasende Flügelschläge. Wilson musste lächeln. Dann drehte das kleine Tier zum Wald hin ab und verschwand.
Wilson hatte soeben ein seltenes Schauspiel der Natur erlebt. Es gab vermutlich nur noch knapp fünfhundert Exemplare weltweit, und eines war gerade auf ihn zugeflogen und vor ihm auf der Stelle geflattert. War das ein Zeichen? Wenn ja, hieß das sicher, dass sich alles wie geplant entwickelte. Jedenfalls wollte er das gern glauben. Aber natürlich konnte es auch das Gegenteil bedeuten.
18.
Peking, China
Verbotene Stadt
Palast der Gesammelten Eleganz
9. September 1860
Ortszeit: 9.15 Uhr
Unternehmen Esra – Tag 190
Cixi war fünfundzwanzig Jahre alt. Als Tochter eines mandschurischen Offiziers war sie für Hsien Feng als Konkubine dritten Grades ausgewählt worden. Ganz sicher hatte sie sich nicht gewünscht, ihr Leben in der Verbotenen Stadt zuzubringen. Denn das war ein stumpfsinniges Dasein, bei dem man hoffte, für den Sohn des Himmels irgendwann etwas Besonderes zu werden. Doch genau dieses Leben führte sie. Bei der ersten Begegnung mit dem Kaiser hatte sie einen Eindruck hinterlassen, von dem er sich nicht mehr freimachen konnte.
Sie gehörte zu den Glücklichen. Für Tausende anderer war die Internierung hinter diesen Mauern eine lebenslängliche Strafe ohne Begnadigung. Im Lauf der Jahre waren viele junge hübsche Mädchen aus Cixis Dorf weggebracht und nie wieder gesehen worden. Im Reich der Mandschu war Schönheit ein Fluch, und die Konkubinen des Kaisers wurden so ausgesucht, dass alle seine Nachkommen reines Mandschu-Blut in sich trugen.
Cixis Schönheit war außerordentlich, doch das war nicht die Eigenschaft, die sie von den anderen dreitausend Frauen unterschied, die ebenfalls dem Sohn des Himmels ihre Treue verpfändet hatten. Drei Attribute zeichneten sie aus: Das erste war ihre Art, sich zu bewegen – elegant, biegsam und weiblich. Ihr zuzusehen, selbst bei den einfachsten Verrichtungen, bedeutete außergewöhnlicher Anmut beizuwohnen. Darin war ihr keine gleich, und diese Begabung kam auch im Schlafzimmer zur Geltung, wo sie sie mit großer Sicherheit einsetzte, um Lust zu bereiten. Das zweite waren ihre Augen. Sie waren braun und ebenmäßig wie bei vielen anderen, doch bei ihr blickte man in eine unendliche Tiefe. Allein von ihr angesehen zu werden, war ein Genuss – das empfanden auch im Kriegsrat viele. Das dritte waren ihr scharfer Verstand und ihre Klugheit. Es gab keine zweite Frau, die so mit Männern auf Augenhöhe verkehren konnte,
Weitere Kostenlose Bücher