Zeitriss: Thriller (German Edition)
verschlechtert hatte. Er war im Gesicht schmaler geworden, und die Haut an Hals und Händen sah dünn und durchsichtig aus wie Reispapier. Seine Augen waren gelblich, was angesichts seiner ständigen Bluttransfusionen ungewöhnlich war. Trotzdem war Wilson in seiner Gegenwart wie immer nervös und auf der Hut; es war so ein Gefühl in den Eingeweiden, als könnte der Alte ein Gemetzel lostreten … oder auch für ein Wunder sorgen. Von ihm ging ein unberechenbarer Tatendrang aus, den man spüren konnte. Wilson hatte sein Leben lang Leute beobachtet und war zu dem Schluss gekommen, dass GM ein außergewöhnlicher Charakter war. Es war nicht sein Reichtum oder seine Macht, was ihn aus der Masse heraushob, auch nicht seine Kleidung. Es war der Mann selbst und diese eigentümliche Energie – und diese wissenden Augen voller Zielstrebigkeit, Konzentration und Leidenschaft für das Leben.
»Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie mich nicht so eingehend mustern würden«, sagte GM und zeigte mit dem Stock auf seinen Mitarbeiter.
Wilson fühlte sich ertappt. »Sie sehen gut aus.«
»Lügen Sie mich nicht an, Mr. Dowling«, entgegnete GM . »Alberne Schmeicheleien kann ich nicht leiden.«
»Es ist komisch, aber manchmal sage ich das Gegenteil von dem, was ich denke«, entgegnete Wilson. Im Nachhinein wirkte selbst diese Bemerkung wie ein alberner Fauxpas. Wilson hob kapitulierend die Hände. »Bitte, bringen Sie mich zum Schweigen. Es ist nicht meine Absicht, respektlos zu sein.«
»Sie sind ein sehr interessanter Mann«, meinte GM darauf. »Bald wird Jasper das Unternehmen leiten. Bei ihm müssen Sie vorsichtiger sein – er ist nicht so nachsichtig wie ich.«
»Esra wird bis dahin vorbei sein, GM , und dann bin ich nicht mehr hier.«
»Ganz recht«, sagte GM , als hätte er das nicht bedacht. »Und wie laufen die Vorbereitungen?«
»Das müssen Sie Davin fragen.«
GM legte seinen Stock quer über die Armlehnen des Schreibtischsessels. »Ich frage aber Sie.«
Wilson überlegte sich seine Antwort gut. »Die Dinge laufen nach Plan. Randall Chen wird am 23. August transportiert.«
»Wie kommt der junge Mann mit dem Druck zurecht?«
Wilson holte tief Luft. »Die Aufgabe ist sehr komplex.«
»Was soll das heißen?«
»Sie ist anders als meine damals. Da ging es um ein technisches Problem. Etwas war kaputt, und ich musste hin und es reparieren. Diesmal geht es um Menschen und ihre Ambitionen beim Zusammenstoß von drei mächtigen Kulturen: Da wäre der chinesische Adel, also die wohl dekadentesten, privilegiertesten Leute des 19. Jahrhunderts, dann das britische Militär, die fraglos selbstgerechtesten Eroberer aller Zeiten, und drittens das stolze Kriegervolk aus dem Norden, die Mongolen, bei denen hinsichtlich ihrer Tapferkeit und Aufgeblasenheit so schnell keiner mithält.« Wilson zögerte. »Alle drei muss Mr. Chen manipulieren. Er muss eine alliierte Streitmacht lenken, damit sie nacheinander die Verteidigungsanlagen der Qing erobert, bis sie vor den Mauern Pekings steht. Und dabei muss er die Kontrolle behalten, um zu verhindern, dass die Verbündeten zum tödlichen Schlag ansetzen und die Verbotene Stadt einnehmen.« Wieder zögerte er. »Das ist eine schwierige Aufgabe. Auf Menschen einzuwirken ist heikel.«
»Und welche Folgen hat es, wenn er versagt?«, fragte GM .
Nur sieben Menschen wussten von diesem Unternehmen – und man konnte mit Recht behaupten, dass die Meinungen zu dieser Frage weit auseinandergingen. Der Esra-Text äußerte sich hinsichtlich der Lebenskraft von Mutter Natur und des Quellorts ihrer Energie sehr vage. »Das kann ich nicht mit Sicherheit sagen, GM . Ich kann nur vermuten, dass Versagen negative Auswirkungen auf den Betrieb des Planeten hätte. Sie haben den Auftragstext sicherlich ebenso gelesen wie ich. Er ist da äußerst ungenau.«
»Das ist wahr.« In Wirklichkeit war GM vollkommen im Bilde. Mit Andres Hilfe hatte er den Dekodierungsprozess manipuliert und wusste genau, was diese Lebenskraft war und wo sie sich befand. »Ich hätte trotzdem gern Ihre Einschätzung«, sagte er.
Professor Author hatte ein Jahr lang darüber spekuliert, und Wilson konnte mühelos antworten. »Dürren, extreme Temperaturschwankungen, Stürme. Missernten, Heuschreckenplagen, Erdbeben. Ozonprobleme, Treibhauseffekt, Erderwärmung. Alles ist denkbar. Aber wenn es richtig melodramatisch klingen soll, könnte man vorhersagen, dass die vier Jahreszeiten in ein wahlloses Durcheinander übergehen –
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