Zeitriss: Thriller (German Edition)
ohne ihre Weiblichkeit einzubüßen. Es stimmte, dass jeder im Palast sie fürchtete, selbst die Verwandten des Kaisers, und sie versuchte nicht, ihr Verlangen nach Macht zu bemänteln. Sie trug ihren Ehrgeiz ebenso stolz zur Schau wie ihre feinen Perlenohrringe.
Hsien Feng bewunderte ihr freimütiges Wesen, doch seine Tage waren gezählt und somit auch die Cixis. Ihre Macht war unweigerlich an ihn gebunden, erstens durch seine Liebe zu ihr und zweitens durch die Bande des Blutes, denn sie war die einzige, die ihm einen Sohn und Erben geschenkt hatte. Der kleine Tung Chi war jetzt fünf Jahre alt und Anwärter auf den Thron des Reiches, aber noch zu jung, um die Führerschaft von seinem Vater zu übernehmen, sollte der Kaiser bald sterben. Tung Chi würde dann zwar den Thron besteigen, aber ein Regent würde ernannt werden, der sich um ihn – und das Volk – kümmerte, bis der Knabe erwachsen war. Noch nie war eine Frau dazu ernannt worden, aber Cixi hatte bereits den Blick auf ihr Ziel geheftet. Nur als Regentin konnte sie den Thron für ihren Sohn sichern – und damit ihr Überleben.
Sie saß auf einem Stuhl aus Rosenholz, den Rücken kerzengerade, das Kinn erhoben, im Palast der Gesammelten Eleganz, ihrem Lieblingsplatz unter den tausend Hallen der Verbotenen Stadt. Er war ihre Residenz. Von Westen stieß er an den kaiserlichen Garten und blickte an der Rückseite auf die eindrucksvolle Halle des Kaiserlichen Friedens. Es war bekannt, dass sie ihn gewählt hatte, weil sie den Namen mochte, aber er gewährte auch einen spektakulären Blick auf die zwei alten Zypressen in dem abgeschiedenen Garten und war während des Tages bis in den Nachmittag hinein beleuchtet. Die Haupthalle war karg bestückt mit dunklen Möbeln aus Rosenholz, die gemessen an der Größe des Raumes schlank und zerbrechlich wirkten. Die Decke ruhte auf sechs roten Säulen, und an der Rückwand stand mit schwarzen Schriftzeichen auf gelbem Reispapier: Schönheit und Stärke. Entlang der Ostseite hing ein dicker weißer Vorhang, dahinter lagen ihre Wohnräume, Umkleidekammern und etliche Vorzimmer.
»Das Schicksal von vierhundert Millionen Seelen ruht auf meinen Schultern«, erklärte Cixi vor ihren Zuhörern. Sie trug ein schwarzes Chang Pao aus feinster Seide, das jede Rundung ihres Körpers abbildete.
Vor ihr auf dem Schieferboden standen der zweiundzwanzig Jahre alte Prinz Kung, der jüngere Bruder des Kaisers, und Mu Yin, der zweiundfünfzig Jahre alte Vorstand des Kriegsrats. Mu Yin war ein kluger Mann, und seine Loyalität galt nach Cixis Ansicht zuerst dem Sohn des Himmels. Der knabenhaft wirkende Prinz Kung war höchstwahrscheinlich ihr größter Unterstützer, denn sie bewahrte sein dunkles Geheimnis vor den anderen Familienmitgliedern.
Beide Männer trugen die für sie angemessene blaue Hofkleidung: eine dicke, eng sitzende Weste über einem langen Rock. Der Prinz hatte den vierklauigen Drachen an der Brust, der ihn als Prinzen von Geblüt auswies, Mu Yin den goldenen Fasan, die zweithöchste zivile Auszeichnung.
Cixi hatte ihren Großeunuchen Li Lien wie immer im Blick, der im farbenfrohen Eunuchengewand mit seinen zwei Gehilfen im Hintergrund stand und jede ihrer Bewegungen verfolgte.
»Ihr seid in eine Falle geraten«, sagte Prinz Kung.
»Die Verhandlungen haben die roten Teufel bei Tientsin nicht aufhalten können«, fügte Mu Yin hinzu. »Senggerinchin zieht unser ehrenwertes Heer nah an Peking heran; gefährlich nah sogar. Ihr seid vor dem Kriegsrat zu stark aufgetreten, und infolgedessen hat Su Shun eine Falle aufgestellt.«
Damit enthüllte er ihr kein Geheimnis.
Fast zwei Wochen lang hatten Generalgouverneur Hangfu und zwei Bevollmächtigte die Briten und Franzosen bei Tientsin hingehalten. Die Sache flog schließlich auf, nachdem alle Verhandlungspunkte abgeschlossen und der Zeitpunkt gekommen war, den neuen Vertrag zu unterzeichnen. Da erst erkannte Harry Parkes, dass Hangfu das kaiserliche Siegel gar nicht bei sich hatte. Ohne dieses war der Vertrag das Papier nicht wert, auf dem er stand. Wütend über den Betrug marschierte Lord Elgin in die ungeschützte Stadt ein und erklärte sie zum Eigentum seiner Königin. Damit hatte er auch die Kontrolle über den Haihe und konnte somit die Reislieferungen an die Hauptstadt behindern, die alle mit Schiffen aus den südlichen Provinzen kamen. Nach der Eroberung der Festungen waren die Soldaten ausgeruht und in Kampflaune. Am 6. September brachen sie dann ihre Zelte ab
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