Zeitriss: Thriller (German Edition)
Schlimmeres. Die Cholera war in dieser Gegend weit verbreitet.
Durch dieses Tor hatte Randall damals als Bettler verkleidet die Stadt verlassen. Es war eine kalte Winternacht gewesen, fast so kalt wie an diesem Morgen.
Hinter den Torflügeln begann ein dunkler Gang, der wie ein klaffender Schlund tief in die Festung hineinführte. Randall wurde von Dunkelheit verschluckt, und so betrat er eine der größten Städte der Welt. Peking hatte über 750 000 Einwohner und stellte die Führungsschicht für das 400-Millionen-Volk in den zahllosen Provinzen. 1860 war dies die Hauptstadt der Hauptstädte.
Der Hufschlag hallte durch den finsteren Torweg, und Randall überlegte für einen Augenblick, ob er vielleicht doch in eine Falle ritt. Er spannte alle Sinne an und machte sich auf alles gefasst.
Ihm fiel ein, dass die Slums dieser Stadt selbst unter den Chinesen als höchst abscheulich galten. Es gab keine Kanäle, und die Abwässer wurden in Gruben am Straßenrand gesammelt; es hieß, der Gestank sei für nicht daran gewöhnte Nasen unerträglich.
Als sie wieder ans Tageslicht kamen, war Randall angenehm überrascht. Hinter dem Yungtingmen-Tor lag ein riesiger, geschäftiger Marktplatz, auf dem es zuzugehen schien wie immer, obwohl die gefürchteten roten Barbaren in der Ebene ihr Feldlager aufgeschlagen hatten. Über den Platz schallten die rauen Rufe der Händler, schrille Trompetenstöße und das Geklapper hölzerner Kastagnetten. Masseure, Akupunkteure, Kurpfuscher und Fußpfleger boten im Freien ihre Dienste an zwischen den Ständen mit Obst, Seide, Reiswein, Brot und anderen Esswaren. Barbiere schoren Köpfe kahl oder schnitten die Haare nach Mandschu-Art: oben kahl bis zum Pferdeschwanz. Es gab Akrobaten und Geschichtenerzähler, sogar einen Puppenspieler. In dem Gedränge rannten die Hühner frei umher, Kamele wurden mit allen möglichen Gütern beladen durch die Straßen geführt.
Randall und seine Eskorte trotteten in nördlicher Richtung auf das drei Kilometer entfernte Chienmen-Tor und die Mauer der Tatarenstadt zu. Zu Randalls Verwunderung schien sich der Marktplatz unendlich fortzusetzen. Die schiere Größe verblüffte ihn. Es schien, als wäre die gesamte Menschheit hier zusammengepfercht und gezwungen mitzumachen. Dass das Leben so unbeeinträchtigt weiterlief, war ein Wunder für sich.
Interessanterweise hatte kaum jemand einen zweiten Blick für ihn übrig, sondern man bestaunte vielmehr den kurzhaarigen braunen Araber, den er ritt. Das Tier war mindestens vier Handbreit höher als die stämmigen mongolischen Ponys, die Rittmeister Po und seine Männer lenkten.
Schon von weitem sah er die Mauer der Tatarenstadt aufragen. Sie war noch höher und dicker als die äußere Stadtmauer. Das Chienmen-Tor war ein dreistöckiger Wachturm mit dreistufigem Dach, der vom Sockel bis zum First vierzig Meter maß.
Randall mutmaßte, dass das Gros des Qing-Heeres in der Tatarenstadt stationiert war. Bei einem Angriff auf Peking würden die Mandschu den chinesischen Stadtgürtel sich selbst überlassen und die Verteidigung auf den Schutz der Reichen und vor allem der Verbotenen Stadt konzentrieren.
Die hohen, goldverzierten Torflügel des Chienmen-Tores öffneten sich, und hundert kaiserliche Soldaten in leuchtend gelber Uniform schwärmten aus, um sich drei Reihen tief mit dem Schwert in der Hand, den Blick zum Boden gerichtet, aufzustellen, während Randall und seine Eskorte über die Brücke ritten. Diese spannte sich über einen weiteren Graben mit abgestandenem Wasser und führte ebenfalls in einen finsteren Torweg. Erst nach sechzig Metern gelangten sie wieder ans Tageslicht. Randall kam sich vor, als beträte er eine Welt, aus der es kein Entkommen gab. Dies war in der Tat eine Stadt, die sich hinter zahlreichen Mauern verschanzte.
Hinter dem Torweg erstreckte sich eine Wohngegend mit Tausenden rot gedeckter Häuser, zwischen denen gelegentlich ein Baum stand. Die Luft roch frisch und sauber, die Straßen waren mit großen Granitplatten gepflastert. Hier lebte Chinas gehobene Mittelklasse. Es gab ein verzweigtes Abwassersystem, das den Unrat in die Gräben vor der Stadt leitete. Es herrschte kein Gedränge, im Gegenteil: Nur wenige Leute und Sänften waren unterwegs. Die Nachricht, dass die roten Teufel näher rückten, hatte vermutlich viele überzeugt, nach Norden zu ihren Sommerresidenzen zu flüchten oder sich in ihrem Haus einzuschließen.
»Wo ist der Kaomio-Tempel?«, fragte Randall.
Der
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