Zeitschaft: Meisterwerke der SF (German Edition)
den Anstoß zum Absenden der Botschaft gab. Die Tachyonentheorie, die »Zeitschaft« zugrunde liegt, macht das Verschicken einer Nachricht zurück in der Zeit glaubhaft – aber das sich dabei ergebende Paradox muss nach wie vor behandelt werden, sowohl in Begriffen des wissenschaftlich fundierten Bildes von der Raumzeit, das »Zeitschaft« bietet, als auch in der Begriffen der Geschichte, die der Roman erzählt.
Der Augenblick eines konzeptionellen Durchbruchs ist die Klimax in der Arbeit eines theoretischen Wissenschaftlers, und der Schlüssel dazu ist die Einsicht, dass der klassische Beobachter, jener absolut objektive Wissenschaftler, der in keiner Weise mit dem Beobachtungsgegenstand in Wechselwirkung tritt, ein Fabelwesen ist. »Zeitschaft« lässt erkennen, dass die Grenzen möglicher wissenschaftlicher Objektivität naturgemäß von der unvermeidlichen Subjektivität der Charaktere in menschlichen Situationen verstärkt werden. Gordon betrachtet Penny in den Begriffen seiner Prägung als New Yorker Jude und missversteht sie dementsprechend, da er ihr ihre eigene Wirklichkeit nicht zubilligt. Petersons Don-Juan-Allüren stoßen mit Wickhams lesbischen Neigungen zusammen, und jeder betrachtet den anderen feindselig; der Konflikt zwischen Petersons Upper-Class-Haltung und Renfrews Arbeiterklassen-Einstellung wirkt sich auch auf ihre gemeinsame Arbeit aus. Persönlichkeitsunterschiede beeinflussen Bernsteins Arbeit mit seinem Studenten Cooper und veranlassen ihn, über Gelegenheiten nachzudenken, die in der Wissenschaft verpasst werden, wenn menschliche Kollisionen eine wirksame Zusammenarbeit unmöglich machen. Dass Wissenschaft eine menschliche Aktivität ist, wird in »Zeitschaft« sehr deutlich. »Theorien basieren auf Abbildern von der Welt – menschlichen Abbildern«, gibt Markham zu (Kapitel 24). Die Tatsache, dass Subjektivität in jedwedem vom Wissenschaftler gewählten Bezugsrahmen unvermeidlich ist, ist von grundlegender Bedeutung für die wissenschaftliche Diskussion über das Wesen der Raumzeit.
Obwohl die Wissenschaftler die Objektivität idealisiert haben, finden sie es jetzt theoretisch unmöglich, sich von dem System zu distanzieren, dessen Wahrheit sie zu entdecken hoffen. Heisenberg hat den Beobachter in das quantenmechanische System eingebunden. Gödel hat gezeigt, dass jedes System wahre Aussagen enthält, die aus dem System heraus nicht bewiesen werden können, sodass Versuche, solche Wahrheiten festzustellen, fortwährend das System vergrößern, welches den Wahrheitssucher enthält. Markham grübelt darüber, wie aussichtslos es ist, sich einen unabhängigen Beobachter in seinem Problem von kosmischen Ausmaßen auch nur vorzustellen, wo Tachyonen das ganze Gewebe der Raumzeit zu einem einzigen System verknüpfen. Die Welt der Wissenschaft und die Menschenwelt haben jetzt eine unvermeidliche Subjektivität gemeinsam. Dies anzuerkennen, ist der Schlüssel für Markhams konzeptionellen Durchbruch und wird in ein Bild von mehrfachen Universen umgesetzt, welches uns einlädt, uns in einem Paradigma neu zu orientieren, das sich von dem traditionellen ziemlich stark unterscheidet, wo eine einzigartige Realität vorausgesetzt wird, die objektive Wissenschaft entdecken kann.
Wer viel Science Fiction liest, wird sich bei manchen Motiven von »Zeitschaft« in seinem Element fühlen: bei der ökologischen Krise, beim Kontakt zwischen Vergangenheit und Zukunft und dem daraus resultierenden Zeitparadox, bei den Wissenschaftlern, die an der Lösung eines wissenschaftlichen Rätsels und an der Rettung der Welt arbeiten, und sogar bei einem gewissen Maß an Theoretisieren. Was »Zeitschaft« allerdings auszeichnet, ist die Kombination von Elementen, die man in der Science Fiction nicht so häufig findet: die detailreiche Darstellung zeitgenössischer Wissenschaft, die Aufmerksamkeit für die Entwicklung der Charaktere und das Verhältnis zwischen literarischer und wissenschaftlicher Herangehensweise an Ideen über Subjektivität, wechselseitige Verknüpfung und mehrfache Universen. In »Zeitschaft« ist der sonst sehr deutliche Unterschied zwischen »harter« Science Fiction und Mainstream-Literatur nur schwach ausgeprägt.
In einem Artikel in der Ausgabe von Isaac Asimov’s Science Fiction Magazine vom 15. Februar 1982, betitelt »Warum gibt es so wenig Wissenschaft in der Literatur?«, wählt Benford, der den Begriff »postmodern« nicht mag, »Irrealismus« als Bezeichnung für jene Richtung in
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