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Zeitschiffe

Zeitschiffe

Titel: Zeitschiffe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen Baxter
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übereinanderkrabbelnder Insekten – und hier und da sah ich Blutflecken, die sich dunkel gegen Fleisch und Kleidung abzeichneten.
    »Mein Gott«, sagte Moses bewegt. »Wir müssen diesen Menschen helfen.
    Komm...«
    »Nein«, fuhr ich ihn an. »Wir können nicht – es sind zu viele; es gibt nichts, was wir tun könnten. Wir müssen vielmehr froh sein, daß wir überhaupt noch leben ...
    Und jetzt, wo die Geschütze sich eingeschossen haben – Komm! Wir müssen unserem Plan folgen; wir müssen hier weg und in die Zeit. Begreif doch!«
    »Das halte ich nicht aus«, schrie Moses. »Ich habe noch nie einen solchen Anblick erlebt.«
    Der Morlock stieß wieder zu uns. »Ich fürchte, daß wir noch Schlimmeres sehen werden, bevor dieses Jahrhundert zu Ende ist«, prophezeite er düster.
    Also gingen wir weiter. Wir stolperten über einen Straßenbelag, der vor lauter Blut und Exkrementen schlüpfrig geworden war. Wir kamen an einem Jungen vorbei, der hilflos stöhnte, wahrscheinlich ein zerschmettertes Bein; ungeachtet meiner vorherigen Einwände konnten Moses und ich sein klagendes Weinen und die
    Hilferufe einfach nicht ignorieren. Er lag dicht neben dem zerfetzten Leichnam eines Milchmanns, und wir bückten uns, um ihn von dort wegzuschaffen und gegen eine Wand zu lehnen. Eine Frau tauchte aus der Menge auf, sah die Qualen des Kindes und ging zu ihm hin, begann sein Gesicht mit einem Taschentuch abzuwi-schen.
    »Ist sie seine Mutter?« fragte mich Moses.
    »Ich weiß nicht. Ich...«
    Diese seltsame, fließende Stimme erklang hinter uns, wie ein Ruf aus einer anderen Welt. »Kommt!«
    Wir gingen weiter und erreichten schließlich die Ecke, wo Queen's Gate und die Terrace aufeinanderstoßen; und wir sahen, daß hier das Epizentrum der Explosion gewesen war.
    »Wenigstens kein Gas«, stellte ich erleichtert fest.
    »Nein«, bestätigte Moses mit belegter Stimme. »Aber – O Gott! – das gibt es
    doch nicht!«
    In der Straße klaffte ein Krater mit einem Durchmesser von vielleicht fünf Fuß.
    Türen waren eingedrückt, und weit und breit war kein Fenster mehr ganz; die Vorhänge baumelten nutzlos herab. Die Splitter der explodierten Granaten hatten die Gehwege und Hauswände mit kleinen Kratern übersät.
    Und die Menschen...
    Manchmal versagt die Sprache, wenn es darum geht, den ganzen Schrecken eines Ereignisses zu vermitteln; manchmal bricht der Austausch zwischen den Menschen über vergangene Ereignisse, der ja die Grundlage unserer Gesellschaft ist, zusammen. Dies war ein solcher Moment. Ich konnte niemandem, der es nicht selbst erlebt hatte, den Schrecken dieser Londoner Straße vermitteln.
    Abgerissene Köpfe. Einer lag auf dem Straßenpflaster ordentlich neben einer
    Aktentasche. Die Szenerie war mit Armen und Beinen übersät, die – es sah absurd aus – bekleidet waren; hier sah ich einen abgetrennten Arm mit einer Armbanduhr
    – ich fragte mich, ob sie noch immer lief! – und dort, an einer kleinen, abgerissenen Hand, die dicht am Krater lag, waren die Finger wie Blütenblätter nach oben gekrümmt. Alles um mich her wirkte absurd – ja fast irgendwie komisch! Selbst damals mußte ich mich zu der Erkenntnis zwingen, daß diese losgelösten Einzelteile noch vor wenigen Minuten zu denkenden und fühlenden menschlichen Wesen gehört hatten, von denen jedes ein eigenes Leben und eigene Hoffnungen gehabt hatte. Aber diese Fetzen erkaltenden Fleisches erschienen mir nicht menschlicher als der Schrott eines zerstörten Fahrrads, dessen Einzelteile auf der Straße verstreut lagen.
    Noch nie zuvor hatte ich etwas Derartiges gesehen; ich fühlte mich völlig ent-rückt, als ob ich mich durch eine Traumlandschaft bewegte – aber ich wußte, daß sich dieses Gemetzel in meiner Seele wiederholen würde. Ich dachte an das Innere der Morlock-Sphäre und stellte sie mir als eine Schüssel vor, die mit Millionen Punkten des Schreckens und Leidens angefüllt war, von denen jeder so gräßlich wie dieser hier war. Und die Vorstellung, daß solch ein Wahnsinn über London hereinbrechen würde – mein London – ließ eine solche Seelenqual in mir aufkommen, daß mir der Atem stockte.
    Moses war bleich, und seine Haut war von einem feinen Schweißfilm bedeckt;
    seine Augen waren aufgerissen, und sein Blick irrte flackernd umher. Ich schaute auf Nebogipfel. Die Augen hinter seiner Brille überflogen ohne ein Blinzeln dieses schreckliche Gemetzel; und ich fragte mich, ob er allmählich zu der Überzeugung gelangte, daß

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