Zeitsplitter - Die Jägerin: Roman (German Edition)
gerasselt. Italien wird jemanden brauchen, der es da rauspaukt, aber Deutschland stellt sich stur. Gott sei Dank ist der Euro nie verabschiedet worden, der ganze Kontinent wäre am Arsch.«
Er spricht nicht mehr wirklich mit mir, was okay ist, denn ich höre ihm auch nicht wirklich zu. »Okay, ich sag’s ihr.«
»Wir fahren morgen sehr früh«, sagt er. »Vielleicht sehen wir uns gar nicht mehr. Ich habe mit Luz gesprochen, und sie wird bei dir bleiben, während wir …«
»Dad! Wir haben doch schon darüber geredet!« Meine Eltern fliegen jedes Jahr nach Weihnachten für ein paar Wochen ins Vail Ski Resort. Ich dachte, sie würden dieses Jahr vielleicht aussetzen, da sie so viel gestritten haben, aber sie haben beschlossen, es wäre eine gute Gelegenheit, wieder miteinander in »Kontakt zu kommen«. Igitt. Ich gehe zum Fenster und sehe zur Einfahrt der Shaws’ hinüber. »Ich bin kein kleines Kind mehr. Ich kann allein bleiben.«
»Tut mir leid, Schatz, aber das gefällt mir einfach nicht. Luz wird …«
Ich höre ihn nicht mehr, als Scheinwerfer den Hof erleuchten und ein dunkler Wagen auf die Zufahrt der Shaws’ einbiegt. Die vorlaute Mädchenpower, die ich vorhin noch beschworen habe, löst sich in einem Adrenalinschub in Wohlgefallen auf. James ist wieder da.
»Okay, Dad«, unterbreche ich seine Auslassungen über Einbrüche in der Weihnachtszeit und Highschoolpartys. »Ich muss jetzt auflegen. Tschüss.«
Ich laufe die Treppe hinunter und schlüpfe mit den nackten Füßen in die Schneestiefel, die Luz geputzt und neben die Tür gestellt hat. Ich greife mir den Mantel aus dem Garderobenschrank und werfe ihn ungeschickt über. Plötzlich habe ich zwei linke Hände.
»Ich gehe nach nebenan!«, rufe ich zu Mom nach hinten, direkt bevor ich die Haustür hinter mir schließe.
Ich steige vorsichtig die vereisten Stufen hinab und laufe dann durch knöcheltiefen Schnee – immer wieder auf dem nassen Gras darunter ausrutschend – hinüber zu den Shaws. Ich drücke zweimal auf die Türklingel, wie ich es immer schon getan habe, und vergrabe die Hände in den Taschen, während ich warte.
Die Tür öffnet sich, und da steht James: groß, dunkelhaarig und umwerfend. Es ist immer noch irgendwie ein Schock, ihn so zu sehen. Vor ein paar Jahren war er nur ein schlaksiger Wissenschaftsfreak mit Riesenohren, der sich mehr für das Ausknobeln mathematischer Gleichungen interessierte als für Partys und Rumhängen mit seinen Klassenkameraden. Obwohl er ein Shaw ist, war ich normalerweise die Einzige, die sich beim Mittagessen zu ihm setzte.
Dann, praktisch über Nacht, schoss James fünfzehn Zentimeter in die Höhe, wuchs in seine Ohren hinein und war plötzlich heiß . Alle wollten seine Aufmerksamkeit, denn offenbar können die Leute plötzlich darüber hinwegsehen, dass man ein Supernerd ist, wenn man mal von Vanity Fair porträtiert wurde. Zum Glück für mich ist er noch genauso sonderlich und menschenscheu wie früher.
Das Mädchen, das ich noch vor drei Wochen war, hätte sich in seine Arme geworfen, sobald er die Tür öffnete. Doch auf einmal weiß ich nicht mehr, was ich mit mir anfangen soll. Ich starre auf die Lippen, die meinen so nahe gekommen sind, und fühle mich, als wäre ich zu einer dieser Maisstrohpuppen geworden, die wir in der Grundschule gebastelt haben – spröde und zerbrechlich. Alles ist jetzt anders.
James zieht mich an sich und zerwühlt mein Haar. »Hey, Kleine!«
Okay, das ist nicht so anders. Vielleicht gab es nie einen Fast-Kuss. Vielleicht habe ich das nur geträumt.
Ich bin so dämlich .
James zieht sich wieder zurück und grinst mich an. »Hübscher Schlafanzug.«
Ich boxe ihn in den Arm und zwinge mich zu einem Lächeln. »Halt die Klappe. Das war ein Weihnachtsgeschenk von Luz.«
»Was soll das sein? Tanzende Rentiere?« Er beugt sich herunter, um das knallbunte Muster näher in Augenschein zu nehmen. »Gefällt mir.«
»Willst du mich nun reinlassen oder nicht? Es ist eiskalt hier draußen.«
Er tritt beiseite und bittet mich mit einer ausladenden Handbewegung herein.
»Bist du das, Marina?«, ruft James’ Bruder Nate von oben.
»Willkommen daheim, Herr Abgeordneter!«
Ich folge James durch die Eingangshalle in die Küche im hinteren Teil des Hauses. Dort holt James eine Vier-Liter-Packung Schokoladeneis aus dem Tiefkühlfach, und ich lächle. Er ist ein Süßigkeitenjunkie. »Ist es nicht ein bisschen kalt dafür?«
»Es ist nie zu kalt für Schokoladeneis.«
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