Zeitsplitter - Die Jägerin: Roman (German Edition)
Er gibt mir einen Löffel und stellt den Behälter auf die Theke zwischen uns. »Wie geht’s denn, Marchetti?«
Das wüsstest du, wenn du in den letzten drei Wochen mit mir geredet hättest.
Ich gehe um die Theke herum und stelle mich neben ihn. »Halt still. Ich will dich anschauen.«
Er grinst, drückt die Schultern zurück und richtet sich auf. Er ist gut zwanzig Zentimeter größer als ich, mit langen Gliedmaßen, die ihn in der kurzen Zeit, die er an der Sidwell war, zum besten Schwimmer der Schule gemacht haben. Sein dunkles Haar ist ein wenig länger, als ich es in Erinnerung habe, aber ordentlich wie immer, und während er zu mir herunter lächelt, strahlen seine hellbraunen Augen so warm, dass meine Knie schwach werden.
»Jep«, sage ich und wende mich ab, um den Löffel in der weich werdenden Eiscreme zu versenken. »Immer noch hässlich.«
Er lacht. »Danke.«
»Du siehst auch kein bisschen klüger aus. Bist du sicher, dass diese Eliteschule dir was nützt?«
James wird rot – wirklich rot , was sonst kaum jemand wird –, denn er ist zwar ein Genie, aber ein bescheidenes. Er mag es nicht, wenn man erwähnt, wie außergewöhnlich er ist, wie er drei Jahre früher seinen Abschluss gemacht hat und nun, mit nicht einmal achtzehn, schon an seinem Master an der Johns Hopkins arbeitet.
»Um ehrlich zu sein, es gibt da etwas«, sagt er, »das ich dir erzählen muss.«
Ich bin wieder diese hohle Maisstrohpuppe, und beim kleinsten Atemzug bilden sich knisternd Risse. Vielleicht hatte Tamsin ja doch Recht und er versucht, so zu tun, als wäre alles so, wie es immer war, weil er nervös ist – James ist nicht unbedingt das Musterbeispiel eines sozial kompetenten Menschen –, aber er will mir mitteilen, was er wirklich fühlt. Ich muss ihm nur helfen und den ersten Schritt tun.
»Ja?«, frage ich. »Ich dir auch.«
Er sieht erleichtert aus. »Du zuerst.«
»Okay«, sage ich.
Und plötzlich geht mein Gehirn aus.
Ich hätte das üben sollen. Ich hätte mir von Tamsin und Sophie genau vorbeten lassen sollen, was man sagt. Ich verbringe wertvolle Sekunden damit, noch einmal im Geiste durchzuspielen, was vor drei Wochen passiert ist. Es war am Abend des Winterballs in der Schule, James wollte am nächsten Tag nach Connecticut fahren. Der Ball war eine einzige Katastrophe. Ich brach mir zehn Minuten nach der Ankunft einen Absatz ab, Sophie trank zu viel von dem heimlich mit Alkohol gemischten Punsch und übergab sich die halbe Nacht, und Tamsin machte auf angemessen dramatische Weise mit Asher Schluss, noch bevor der erste langsame Tanz vorbei war. Ab da sah sich meine Verabredung – Will Denby, der nicht meine erste Wahl gewesen war, aber natürlich hatte James zu viel zu tun, um mich zu fragen – körperlich außerstande, sie nicht anzubaggern, und am Ende saß ich allein an einem Tisch in einer Saalecke und sah den beiden beim Tanzen zu. Mit den kaputten Schuhen in der einen Hand und dem Mobiltelefon in der anderen floh ich schließlich auf den Parkplatz.
Ich wusste, dass er mitten in einem großen Projekt für Dr. Feinberg steckte, aber ich rief James trotzdem an.
»Entschuldige«, sagte ich, als er sich meldete. »Ich weiß, dass du arbeitest …«
»Was ist los?«, flüsterte er. Er musste in der Bibliothek sein. »Alles in Ordnung?«
»Mir geht’s gut«, log ich, doch meine Stimme verriet mich.
»Komm schon, Marina.«
»Also …« Ich holte tief Luft, und dann strömte die Geschichte einfach aus mir heraus. »Sophie ist schlecht, Tam tanzt mit meiner Verabredung, und alles ist einfach schrecklich! Außerdem hab ich mir den Absatz abgebrochen.«
»Bleib, wo du bist. Ich hole dich ab.«
Ich spürte plötzlich den Kies unter meinen Füßen nicht mehr. Ich schwebte. »James, du brauchst doch nicht …«
»Bis in zwanzig Minuten.«
Er kam fünfzehn Minuten später in einem Taxi mit einer Tube Alleskleber in der Hand angefahren. Er reparierte meinen Schuh, während uns das Taxi zu einem Diner in Washingtons Adams-Morgan-Viertel brachte, wo James mich so lange beschwatzte, bis ich mir einen Stapel Chocolate-Chip-Pfannkuchen mit ihm teilte. Nach einer Stunde und mehr Kalorien, als ich mir vorstellen wollte, hatte sich der mulmige Knoten in meinem Magen aufgelöst, und ich war glücklich. Einfach glücklich.
Dann, als wir uns auf dem Gehweg vor unseren Häusern verabschiedeten und umarmten, hielt James inne, sein Gesicht nur Zentimeter von meinem entfernt, und starrte auf meine Lippen. Die Luft
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