Zeitsplitter - Die Jägerin: Roman (German Edition)
presst meinen Bauch zusammen und reißt mich mit sich. Der Wind fährt durch mein Haar, die Welt verschwimmt um mich her. Ich fliege und falle gleichzeitig. Finn und die Waffe und das Krankenhaus verwischen zu grauen Schlieren, und eine andere Welt nimmt an ihrer Stelle Gestalt an.
Ich werde es diesmal schaffen, da bin ich mir sicher.
Andere Kinder haben Eltern, die sie anfangs anschieben, aber ich nicht, deshalb bringe ich das Rad auf dem höchsten Punkt unserer Einfahrt in Position und lasse die Schwerkraft den Rest erledigen. Ich fliege die Einfahrt hinunter und auf die ruhige Straße, und endlich fahre ich selbst. Mein Herz macht einen Hopser. Die Häuser unseres Blocks sausen unglaublich schnell vorbei. Ich bin frei.
Nein. Ich fahre nicht. Ich falle. Das große Rad unter mir kippelt und gerät außer Kontrolle, das Lenkrad zuckt nach links und nach rechts und entzieht sich meinen kleinen Händen. So kleine Hände. Der Boden rast mir entgegen, und noch bevor ich schreien kann, liege ich lang hingestreckt auf dem Gehweg, und Hände und Knie brennen. Ich rolle mich zur Seite und ziehe ein Knie an die Brust. Ich sehe aufgeschürfte Haut und Blut durch die zerrissene Strumpfhose. Es ist meine Lieblingsstrumpfhose, rosa mit weißen Punkten. Immer wenn ich mir diesen Moment vorgestellt habe – die Straße auf dem Fahrrad entlangfliegen, von hier wegfahren, während mein Haar offen hinter mir her flattert –, trug ich meine Lieblingsstrumpfhose, deshalb bestand ich heute Morgen darauf, sie anzuziehen. Und jetzt ist sie zerrissen.
Heiße Tränen rollen mir die Wangen herab, und ich versuche gar nicht erst, sie zurückzuhalten.
»Alles in Ordnung, Kleine?«
Ich schaue hoch und sehe den Jungen von nebenan durch den Tränenschleier. Als wir vor einigen Wochen eingezogen sind, sagte Mom, ich solle ihn fragen, ob er mit mir spielt, aber ich hatte zu viel Angst. Er ist ein Junge und mindestens acht. Er würde mich auslachen.
Ich beiße die Zähne zusammen. »Geht schon.«
»Du hast vergessen zu treten.« Er grinst und streckt mir die Hand hin.
»Nein, hab ich nicht!«
»Doch, hast du.« Er setzt sich neben mich auf den Bordstein. »Das ist okay. Ist mir auch passiert, als ich Radfahren gelernt hab. Ich bin in einen großen Busch gefallen.«
»Echt?«
Er nickt. »Und der war voller Dornen. Hast du dir wehgetan?«
Ich zucke die Achseln, aber er nimmt meine Hände in seine und dreht die Handflächen nach oben, um sie betrachten zu können. Sie sind voller Schrammen und Dreck von der Straße. Er beugt sich vor und pustet darüber, sodass der Schmutz wegfliegt und meine Haut gekühlt wird.
»Soll ich dir aufhelfen?«, fragt er.
Ich nicke. Er steht auf, und diesmal wirkt er auf mich wie ein Riese. Ich staune zu ihm hinauf – ehrfürchtig –, bevor er seinen Arm unter meinen schiebt und mich auf die Füße zieht.
»Ich heiße James«, sagt er.
»Ich heiße Marina«, sage ich.
Von fern ruft jemand meinen Namen. Ich drehe mich um. Es muss Luz sein oder Mom …
Aber nein. Sie rufen nicht Marina. Sie rufen jemand anderen. Da sind Hände auf meinen Schultern, und sie rütteln mich. Ich sehe in James’ Gesicht, und es verschwimmt, wird zu einem anderen. Ich blinzle, und aus James wird Finn.
»Em!«, sagt er.
»Finn?« Ich fahre mit einem Ruck zurück in meinen Körper. Ich sitze auf dem Boden, der Lauf der Waffe drückt sich in meine Hüfte, und ich spüre das heiße Metall noch durch die Jeans hindurch. Finn hockt über mir, die Augen panisch aufgerissen. »Was ist passiert?«
»Ich weiß es nicht«, sagt er und zieht mich auf die Beine, »aber wir müssen hier weg.«
Finn zerrt mich mit sich, aber ich halte an und sehe zurück zum Krankenhaus, wo sich plötzlich eine Horde Menschen versammelt. »Hab ich ihn getroffen? Ist es vorbei?«
Er zieht an meinem Arm. »Lauf, Em!«
Und das tun wir.
N EUN
Marina
Nachdem James hinausgestürmt ist, murmelt Vivianne eine Entschuldigung und geht zum Waschraum. Ich trete ans Fenster des Warteraums, um den Hinterausgang des Krankenhauses im Auge zu behalten. Es dauert nur eine Minute, bis James auftaucht. Er sieht in seiner blauen Pflegermontur und dem schwarzen Mantel wie jeder andere Krankenhausangestellte aus, aber ich würde ihn noch mit geschlossenen Augen erkennen. Er läuft neben der Krankenwageneinfahrt hin und her und setzt sich dann auf die niedrige Steinmauer, die die Straße säumt. Sein Gesicht verbirgt er in den Händen.
Hinter mir mischt Finn immer und
Weitere Kostenlose Bücher