Zeitspringer
–«
»Er geht nicht«, sagte Helaine.
»Er sucht doch nach Lanoy, oder?« meinte Beth.
»Alles, was er hatte, war der Streifen. Da stand nicht einmal eine Adresse. Er sagte, er wüßte nicht, wo Lanoy zu finden sei. Und wir wissen auch gar nicht, ob Lanoy mit den Springern etwas zu tun hat.«
Beths Augen funkelten.
»Lanoys Leute sind mit ihm in Verbindung«, sagte sie. »Das heißt, sie können ihn jederzeit erreichen. Und er sie. Und sie werden ihn fortschicken. Er wird Springer werden, Helaine. Er muß.«
Q.E.D.
Ein Schnellboot brachte sie zu dem auffälligen Wolkenkratzer, der das Sekretariat Verbrechen beherbergte. Beharrlichkeit am Empfang erbrachte Helaine die Erkenntnis, daß ihr Bruder heute im Büro war und sie vielleicht empfangen würde, wenn sie bereit sei, eine Weile zu warten. Sie erbat einen Termin bei ihm. Die Maschine verlangte ihren Daumenabdruck. Sie gab ihn und setzte sich dann in ein mit düster rotem Stoff ausgekleidetes Vorzimmer und wartete.
Helaine war es nicht gewöhnt, sich in die Welt von Bürogebäuden und wandelnden Servomechanismen hinauszuwagen. Sie blieb in der Nähe ihrer Wohnung und kaufte über Fernbedienung ein. Die Innenstadt – die Welt am Ende der Schnellbootstrecken – war für sie erschreckend. Sie zwang sich, ruhig zu bleiben. In einer so ernsten Angelegenheit mußte sie ihrem Bruder am Schreibtisch direkt gegenübersitzen, damit er ihr nicht mit einer Schalterdrehung entwischen konnte. Sie war außer sich vor Angst.
»Der KrimSek hat jetzt Zeit für Sie«, erklärte ihr eine tonlose, unpersönliche Vocoderstimme.
Sie wurde zu ihrem Bruder geführt. Quellen stand auf, ließ ein kurzes, unbehagliches Lächeln aufblitzen und winkte sie zu einem Sessel. Der Stuhl packte sie und begann ihre Rückenmuskeln zu kneten. Helaine zuckte erschrocken weg, als die unsichtbaren Hände im Sessel sich über ihre Oberschenkel und das Gesäß hermachten. Die Rückkopplungs-Sensoren des Stuhls registrierten ihre Stimmung, die Bestrebungen wurden eingestellt.
Sie sah ihren Bruder unsicher an. Quellen schien sich bei ihr so unbehaglich zu fühlen wie sie bei ihm; er zupfte an seinem Ohr, preßte die Lippen zusammen, ließ die Fingerknöchel knacken. Sie waren einander praktisch Fremde. Sie trafen sich bei Familienanlässen, aber schon seit langer Zeit hatte es keine echte Verbindung mehr zwischen ihnen gegeben. Er war einige Jahre älter als sie. Früher einmal waren sie sich sehr nah gewesen, eng verbundene Geschwister, die einander neckten und piesackten, ganz so, wie jetzt Joseph und Marina. Helaine konnte sich an ihren Bruder als Jungen erinnern, der in ihrer Einzimmerwohnung verstohlen auf ihren Körper blickte, an ihren Haaren zerrte, Hilfe bei den Hausaufgaben leistete. Dann war er für den Staatsdienst ausgebildet worden und hatte von da an nicht mehr auf sinnvolle Weise zu ihrer Welt gehört. Jetzt war sie eine überbeanspruchte Hausfrau und er ein vielbeschäftigter Beamter, und sie hatte undeutlich Angst vor ihm.
An die drei Minuten tauschten sie kleine Freundlichkeiten über häusliche Dinge aus. Helaine erzählte von ihren Kindern, ihrem Gerät für Sozialgewissen in der Wohnung, ihrem persönlichen Leseprogramm. Quellen sagte nur wenig. Er war Junggeselle und dadurch noch weiter von ihr entfernt. Helaine wußte, daß ihr Bruder mit irgendeiner Frau zusammenlebte, die Judith hieß, aber er sprach nur selten von ihr und schien kaum je an sie zu denken. Manchmal argwöhnte Helaine, daß es Judith gar nicht gab – daß Quellen sie als Tarnung für ein einsam ausgeübtes Laster benützte, das ihm lieber war, oder, schlimmer noch, für eine homosexuelle Beziehung. Schwulsein war heutzutage akzeptabel; es trug dazu bei, die Geburtenrate niedrig zu halten. Aber Helaine fand die Vorstellung, ihr Bruder könnte an dergleichen teilhaben, nicht erfreulich.
Sie machte dem ziellosen Gerede dadurch ein Ende, daß sie nach Judith fragte.
»Geht es ihr gut? Du hast dein Versprechen, uns mit ihr zu besuchen, nie gehalten, Joe.«
Quellen wirkte, als Judiths Name fiel, genauso verlegen wie Norm Pomrath, als Helaine ihn nach Lanoy gefragt hatte. Er sagte ausweichend: »Ich habe das bei ihr erwähnt. Sie hält es für gut, dich und Norm kennenzulernen, aber noch nicht gleich. Judith scheut ein wenig davor zurück, deine Kinder kennenzulernen. Kinder bringen sie aus der Fassung. Aber ich bin sicher, das gibt sich noch.« Er ließ wieder das schnelle, gezwungene Lächeln aufblitzen.
Weitere Kostenlose Bücher