Zeitspuren: Mit einem Vorwort von Wolfgang Jeschke - Meisterwerke der Science Fiction (German Edition)
machen. An der Ecke 5th und 42nd befanden sich in der Steinmauer rostige Sprossen, und während ich noch überlegte, ob es überhaupt erlaubt war, kletterte ich auf die Mauer hinauf; nach der Brücke war das hier nichts. Von dort oben aus, mit Blick nach Süden, machte ich dieses Foto. Der Wasserspeicher befindet sich zur Rechten, links sind weitere Sandsteingebäude zu sehen, die ich bereits vorhin erwähnt habe. Ich glaube, diese Ansicht zeigt sehr gut, wie schmal die 5th Avenue ist. Wie schmal sie war. Zu beachten sind die Gehwege; sie bestehen aus Pflastersteinen, nicht Beton.
Einige Augenblicke verweilte ich auf dem Croton Reservoir und starrte angespannt hinunter auf die Kutsche, die am Bordstein in der linken unteren Hälfte des Fotos, das ich gerade gemacht hatte, angehalten hatte; ich sah sie immerzu an, ohne sie wirklich wahrzunehmen. Irgendetwas hatte ich übersehen, und ich wusste, es hatte mit Julia zu tun. In meinen Gedanken aber tat sich nichts. Als eine Frau aus dem Haus – dem Herrenhaus, eigentlich – trat und auf die wartende Kutsche zuging und die livrierten Diener vom Bock sprangen, um den Schlag für sie zu öffnen, seufzte ich, hängte mir die Kamera um und kletterte vorsichtig wieder hinunter.
In der 44th Street machte ich diese Aufnahme (oben). Ich war mir sicher, dass das Ye Olde Willow Cottage noch ein Relikt aus kolonialen Zeiten war. Im Laden von Tyson’s hingen ganze Schweine- und Rinderhälften; auf meinem Bild sind sie leider im Schatten verschwunden.
In den eleganten Straßen auf der Höhe der 50th waren viel mehr Menschen unterwegs, ich machte eine Aufnahme vom William K. Vanderbilts Villa (links unten) – das nagelneu scheinende, aus strahlend weißem Kalkstein erbaute Haus in der Mitte.
Ich ging neben dem Central Park her bis hinauf zur 70th, bevor ich wieder umkehrte. Hier befand ich mich wieder in der Umgebung der kleinen Bauernhäuser, zum größten Teil Ackerland, auf das, wie ich von der gestrigen Schlittenfahrt wusste, nur noch offenes Land folgte.
Zur Abwechslung trat ich meinen Rückweg einen Block später bei der Madison Avenue an und bog dann nach Süden ab. An der 71st Street blieb ich stehen und machte dieses Foto; ich bin mir nicht sicher, warum es mich interessierte, aber ich vermute, weil das Bauernhaus ebenfalls noch eines der kolonialen Relikte war, die es auf Manhattan Island damals noch gab. Hinter dem Central Park, im Hintergrund, ist von hier aus, an der Ecke der 71st und Madison Avenue, in diesem seltsam ländlichen New York deutlich das Museum of Natural History zu erkennen.
Ich hatte noch eine Platte übrig, die ich auf der Höhe der 40th, wieder im bebauten Teil der Stadt, benutzte; für mich ist es das beste Foto von allen. Madison Avenue war eine sehr viel ruhigere Straße als die 5th, aber wie die 5th war sie vom Schnee des Vortags geräumt worden. Jede einzelne Treppenstufe, jeder Quadratzentimeter des Gehwegs war – ich war mir sicher, alle Häuser hatten Personal – gefegt und gereinigt worden.
Die Straße war so ruhig, dass ich meine eigenen Schritte hören konnte. In der nachmittäglichen Wärme dieses kurzen Tauwetters Ende Januar – der Himmel war fast ganz blau, auf meinem Gesicht spürte ich den Sonnenschein – schlenderte ich diese friedliche, längst vergangene Madison Avenue entlang und fühlte mich so glücklich wie schon lange nicht mehr. An der 41st Street setzte ich Felix’ Kamera auf eine der Steinsäulen, die den Treppenaufgang zu einem Sandsteingebäude flankierten. Ich ließ mir Zeit, stellte sorgfältig die Brennweite ein und habe eine Aufnahme gemacht, die gut die Stimmung einfängt, die ich zu beschreiben versucht habe: die friedlich und ruhig ist und von besseren Zeiten zeugt. Hier ist sie: 41st Street und Madison Avenue, ein völlig anderer Ort und eine völlig andere Welt als im späten zwanzigsten Jahrhundert. Aber sie gefiel mir, so wie sie war. Ich machte mein Bild und setzte den Weg fort. Noch jetzt kann ich das Klappern des Pferdewagens hören, der in der Bildmitte zu sehen ist, und die Schritte der Frau mit langem Kleid und Schirm auf dem Gehweg auf der rechten Seite, einen Häuserblock entfernt. In jenem Moment, dem Moment, in dem dieses Bild entstand, befand ich mich an dem einzigen Ort der Welt, wo ich wirklich sein wollte.
Und dann, wie ein Elektronenrechner, der schließlich das richtige Ergebnis präsentiert, tauchte in meinen Gedanken die Frage auf: Wie? Wie kannst du Julia dazu bringen,
Weitere Kostenlose Bücher