Zeitspuren: Mit einem Vorwort von Wolfgang Jeschke - Meisterwerke der Science Fiction (German Edition)
er gehängt.«
»Entsetzlich. Wirklich entsetzlich«, sagte Tante Ada; Julia und Maud nickten, während Byron die Schulter zuckte.
»Das stellte wahrscheinlich eine Verletzung der Menschenrechte dar«, murmelte ich, niemand aber achtete darauf.
Jake nahm die Zigarre aus dem Mund und sagte: »Ich habe gehört, er schreckt nicht einmal davor zurück, falsche Beweise zu benutzen, wenn er sonst nichts finden kann.«
»Das ist gut möglich.« Byron zuckte wieder mit den Schultern. »Jeder weiß, dass er skrupellos vorgeht und noch nicht einmal weiß, was Skrupel sind. Aber die Jungs von der Wall Street haben sich darüber bislang noch nicht beschwert.«
»Nein«, sagte Jake. Er nickte gedankenverloren; ich war mir sicher, dass er hoffte, nach dieser Nacht auch zu ihnen zu gehören. Ich überlegte kurz, ob ich fragen sollte, ob Byrnes auch Erfolge mit Erpressern vorweisen konnte, ließ es dann jedoch. Wir unterhielten uns noch ein wenig über Byrnes, dann – wie immer – über Guiteau. Und schließlich stimmten alle bis auf mich darin überein, die Mormonen vollständig zu verdammen. Aus einigen Bemerkungen erfuhr ich, dass in den Prairien von Utah der Polygamie offensichtlich noch immer gefrönt wurde; keiner hieß das gut, obwohl Byron eher amüsiert als schockiert wirkte. Dann reichten Julia und Tante Ada Apfelkuchen zum Dessert.
Es war für Jake und mich ein schrecklicher Abend. Er konnte nicht still sitzen, nahm sich eine Zeitung oder eine Zeitschrift, las darin einige Minuten, dann sprang er auf, durchquerte das Zimmer und fing mit jemandem ein Gespräch an, ohne recht zuzuhören. Einige Zeit saß er am Tisch im Esszimmer und spielte Solitaire. Zweimal ging er in sein Zimmer hoch, um einen Drink zu sich zu nehmen, wie ich vermutete, erschien aber gleich darauf wieder.
Körperlich war ich ruhiger, meine Seele aber war in Aufruhr und ich zwang mich, der Versuchung zu widerstehen, in die Küche zu gehen, wo Julia und ihre Tante den Abwasch besorgten, und ihr alles zu erzählen; woher ich kam, warum ich hier war, und alles, was ich über Jake erfahren hatte.
Ich wusste einfach nicht, was ich tun sollte, ich kann mich nicht einmal mehr daran erinnern, ob ich zu lesen versuchte. Kurz nach zehn – umgetrieben von dem, was passieren würde – konnte Jake es nicht mehr länger ertragen: er wünschte Julia, die am Esstisch ein Handtuch ausbesserte, kurz angebunden eine gute Nacht und ging nach oben. Einige Minuten später begab sich auch Maud auf ihr Zimmer, und kurz darauf – dies war ein Haushalt von Frühaufstehern – waren Byron und Felix, die im Salon um Pennys gespielt hatten, ebenfalls verschwunden. Tante Ada kam von der Küche herein, und als ich sie die Eingangstür zusperren hörte, gab es auch für mich nichts mehr zu tun, als gute Nacht zu sagen und mich zurückzuziehen. Als ich die Treppe hochstieg, löschten Julia und die Tante gerade die Lampen und besprachen das Frühstück.
In meinem Zimmer lauschte ich mit dem Ohr an der Tür; ich hörte Tante Ada und Julia in ihre Zimmer im dritten Stock gehen, hörte, wie sie sich gute Nacht sagten, horchte noch ein wenig länger, bis auf dem zweiten Stock alles ruhig geworden war. Dann – jetzt oder nie, sagte ich mir – öffnete ich die Tür, trat hinaus, schloss sie leise und stieg schnell und geräuschlos in den dritten Stock hoch. Julias Zimmer ging zur Straße hin, das wusste ich, und unter ihrer Tür fiel Licht auf den Gang. Ich kratzte leise mit dem Fingernagel. Julia öffnete die Tür, und ich sagte: »Ich habe gewartet, bis Sie hochgingen; ich muss Ihnen etwas erzählen, was sonst niemand wissen darf.«
Nur den Bruchteil einer Sekunde zögerte sie, dann nickte sie zustimmend. »Kommen Sie herein.« Ich betrat das kleine Zimmer mit dem Gaubenfenster, dessen Einrichtung aus einem Hocker, einem Bett mit weißem Bettzeug, einem kleinen Tisch und einem Schaukelstuhl bestand. Mit einer Geste bedeutete mir Julia höflich, im Schaukelstuhl Platz zu nehmen, aber ich lehnte ab. »Nein, setzen Sie sich dorthin«, und setzte mich auf den Hocker. Julia ließ sich nieder, schaute mich an, die Hände in den Schoß gelegt, und wartete freundlich lächelnd.
Ich erzählte ihr das, was mir an diesem Abend nach langen Überlegungen als Einziges eingefallen war, und vielleicht war es auch das Beste, denn es war sehr unkompliziert. »Ich bin Privatdetektiv«, sagte ich; in ihrem Nicken glaubte ich ein Gefühl der Befriedigung erkennen zu können, als
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