Zeitspuren: Mit einem Vorwort von Wolfgang Jeschke - Meisterwerke der Science Fiction (German Edition)
wenn sich der Rauch lichtete? Julia war sich dessen nicht bewusst, aber sie hatte mit beiden Händen meinen Arm umklammert und drückte fest zu.
Der Wind blies den Rauch schnell fort; sie stand noch immer da oben, eine Hand am Fensterrahmen, die andere schützend über dem Mund; nun klopfte sie sich auf die Brust und hustete. Dann nahm sie wieder ihre Position ein, blickte zu uns herab und wartete; die Menge kommentierte flüsternd ihre Ruhe und Tapferkeit. Und wieder verging kostbare Zeit; ein Mann neben uns starrte unaufhörlich zu der Frau hoch und fluchte ständig; vielleicht war ihm überhaupt nicht bewusst, was er tat. Dann kamen schließlich zwei Feuerwehrleute mit einer Ausziehleiter um die Ecke der Nassau Street gerannt. An der Mauer des Gebäudes aber hielten sie an – sie trugen noch immer die Leiter – und unterhielten sich; einer von ihnen schüttelte heftig den Kopf. Der Polizist an der Absperrung rannte zu ihnen hinüber und dann wieder zurück. »Die Leiter ist zu kurz«, schrie er uns zu. Einer der Feuerwehrleute rannte dann den Weg, den sie gekommen waren, wieder zurück, hielt an und kehrte wieder um, niemand weiß warum. Und dann kurbelten sie die Leiter hoch, ihr oberes Ende schlug mehrmals gegen die Mauer, während sie ausgezogen wurde.
Sie war tatsächlich zu kurz. In den darauffolgenden Tagen übten die Zeitungen viel Kritik an den Leitern der Feuerwehr, die in einer Zeit, in der viele Gebäude vier, fünf und sechs, die neueren sogar bis zu zehn Stockwerke hatten, viel zu kurz seien. Die Leiter berührte, als sie ganz ausgefahren war, die Wand etwa eineinhalb Meter unterhalb des Simses, auf dem die Frau stand. Und nun rollte wieder träge eine dicke schwarze Rußwolke aus dem Fenster und hüllte sie ein; wäre der Wind nicht gewesen, wäre sie unweigerlich gestorben. Sie hätte sicher das Bewusstsein verloren und wäre in den Raum hinein oder hinab auf die Straße gestürzt. Er trieb die Wolke an der Fassade entlang, und wir sahen den flatternden weißen Schal und das schwarze Kleid.
Ich muss an dieser Stelle etwas bekennen. Seitdem wir das Times Building verlassen hatten und hier unter den Zuschauern standen, war mir einiges durch den Kopf gegangen. Ich gab mir keine Schuld, etwa die, in Jake Pickerings Büro eingebrochen zu sein und nicht das Feuer ausgetreten zu haben, als das noch möglich gewesen war; niemand hatte die plötzliche Entwicklung der nachfolgenden Ereignisse vorhersehen können. Was an meinem Gewissen aber nagte, war, dass Julia und ich durch unsere Anwesenheit den Verlauf der Ereignisse genauso beeinflusst hatten, wie es Dr. Danziger immer befürchtet hatte. Vielleicht hatten wir ein winziges Geräusch gemacht, das Carmody nur am Rande des Bewusstseins mitbekommen hatte, während er die Akten durchsuchte. Dennoch könnte ein kleines, kaum merkliches Geräusch seine Handlungen beeinflusst haben. Sodass er, sagen wir, sein brennendes Streichholz einen Zentimeter weiter zur Seite fallen ließ, wo es auf dem Papier landete und es schließlich entzündete. Andererseits, auch wenn wir nicht da gewesen wären und dieses Geräusch verursacht hätten, wer kann dann mit Bestimmtheit sagen, dass sein Streichholz auf blankes Holz gefallen wäre? Und dass er dann einfach nur dagestanden und zugesehen hätte, wie es langsam erloschen wäre?
Ich war überzeugt, dass Julia in Gedanken genauso mitlitt: Das waren lebendige Menschen, die wir gerade sterben gesehen hatten. Und nun stand diese unglaubliche Frau hoch oben über der Straße und wartete in ihrem mutigen Schweigen entweder auf den Tod oder ihre Rettung – etwas, das sich in den nächsten Sekunden entscheiden musste.
Noch einen Toten hätte ich nicht mehr ertragen; ich hätte es nicht ertragen, wenn sie vor meinen Augen hätte sterben müssen. Ich musste etwas tun. Gleich. Und so – es war nicht Tapferkeit, sondern einfach Notwendigkeit – bahnte ich mir den Weg durch die Menge nach vorn, schlüpfte unter dem Absperrseil durch und rannte über die Straße. Ich erstieg die Leiter nicht, ich sprang einfach auf die untersten Sprossen und raste nach oben. Ich mag keine Höhe; ich fühle mich unwohl und gerate leicht in Panik. Aber nun war dafür keine Zeit. Ich befand mich in einer euphorischen Stimmung; ich hatte den Kopf nach hinten geworfen und blickte hoch, während meine Füße und Hände die Sprossen hochflogen; das Sims näherte sich. Ich hatte keine Ahnung, was ich dort oben tun sollte, als ich jedoch die oberste
Weitere Kostenlose Bücher