Zeitspuren: Mit einem Vorwort von Wolfgang Jeschke - Meisterwerke der Science Fiction (German Edition)
Sprosse erreicht hatte, war mir, als hätte ich es von Anfang an gewusst – alles war klar. Meine Hände schlossen sich über die abgerundeten Enden der Leiter, die Füße kletterten weiter, bis ich, den rechten Fuß auf der obersten Sprosse, den linken eine darunter, zusammengekauert oben stand. Einen Moment hing ich dort bewegungslos und versuchte, mein Gleichgewicht auszubalancieren. Dann ließ ich zum richtigen Zeitpunkt die Hände los und richtete mich auf. Einen Augenblick lang stand ich frei in der Luft, dann fiel ich nach vorne und meine Hände bekamen das Fenstersims zu fassen und dann die Schuhe der Frau, die auf dem Sims standen. Ich sah die Knöpfe, die an einer Seite des Schuhs entlangliefen.
Ich musste es ihr nur einmal erklären: Sie drehte sich schnell um und kletterte und schlitterte über meinen Rücken hinab zur Leiter. Unter meinen Füßen sah ich Kopf und Schultern eines Feuerwehrmanns auftauchen. Seine Hand griff ihre Fußgelenke und stützte sie, dann glitt sie von meinem Rücken auf die Leiter. Diese großartige Frau hatte sich schon genau ausgedacht, wie sie weiter vorgehen würde. Von dem Feuerwehrmann festgehalten, umschlang sie meine Hüfte; dank dieser Unterstützung konnte ich die Fensterbank loslassen, mich niederbeugen und mich wieder an den Leiterenden festhalten. Schnell kletterten wir hinunter und hatten kaum die Hälfte des Weges zum Boden zurückgelegt, als aus dem Fenster, in dem sie gestanden hatte, schwarzer Rauch herausquoll, augenblicklich gefolgt von den tödlichen orangefarbenen Flammen.
Ich stieg die letzte Stufe hinab, die junge Frau warf ihre Arme um meinen Hals und küsste mich auf die Wange. Ich fragte sie nach ihrem Namen; sie hieß Ida Small. Ich hielt für einen ganz kurzen Moment ihre Hand und fühlte mich glücklich und wie erlöst.
Niemals werde ich Julias Augen vergessen, die hinter dem Absperrseil auf mich wartete. Als ich darunter durchgeschlüpft war, klopften mir die Leute bewundernd auf die Schulter, sie gratulierten mir, jemand brüllte mir etwas ins Ohr. Ein alter Mann mit Zylinder, dessen weißes Haar auf altmodische Weise bis zum Kragen reichte, wollte mir seine goldene Uhr schenken. Ich lehnte dankend ab, ergriff Julia am Arm, und wir machten uns rasch auf in Richtung Nassau Street.
Ich sah, dass Julia, zumindest in diesem Augenblick, in mich verliebt war; ihre Augen waren voller Zärtlichkeit. Alles, was ich zustande brachte, war verlegen zu grinsen und über mein Haar zu streichen, da ich, ich konnte mich nicht mehr daran erinnern, bei welcher Gelegenheit, den Hut verloren hatte. Ich kam mir vor wie ein Betrüger, denn bei mir war überhaupt keine Tapferkeit im Spiel gewesen; ich hatte nach Absolution gesucht. Und sie in Ida Small gefunden, die wahrhaft mutig und tapfer gewesen war und nicht zuletzt deshalb noch ein ganzes Leben vor sich hatte.
Am nächsten Morgen schrieb die Times, dass sie ›als Sekretärin im Büro von D. P. Lindsley beschäftigt sei, dem Autor eines Werkes über ›Takigrafie‹. Sie war alleine im Büro gewesen, weswegen sie erst lange nach den anderen das Feuer bemerkt hatte.
In Frank Leslie’s Illustrated Newspaper vom 11. Februar war das Titelbild aus einem Holzschnitt hervorgegangen, der Ida Small auf dem Sims und ihren ›anonymen Retter‹ auf der Leiter zeigt. Ich weiß, ich sollte es nicht tun, füge das Titelbild hier allerdings trotzdem ein, obwohl das Gesicht des Mannes meinem kaum ähnlich sieht, auch trug ich keine Weste.
An unserer Ecke konnten wir sowohl die Fassade zur Nassau Street als auch die zur Beekman Street überblicken, aber niemand stand mehr in den Fenstern, und die Leitern waren bereits weggenommen worden. Nur die Straßen waren noch voller Leute. Wie alle anderen auch, standen wir in hilfloser Faszination, starrten auf die Wasserströme, die durch die Fenster in das brennende Gebäude gespritzt wurden, auf die heiße Luft und die Funken, die von den Heizkesseln der dampfbetriebenen Pumpen der Feuerwehrwagen in endloser Reihe aufstiegen, und auf den wirbelnden Vorhang aus Schnee.
Plötzlich war der Brand zu Ende: Das Dach stürzte zusammen, krachte auf die nächste, bereits angegriffene Decke, dann brach das gesamte Innere des Gebäudes bis zum Keller ein, und riesige Wolken aus Rauch, Funken und Trümmerstücken erhoben sich fünfzehn Meter über die Mauern, begleitet von einem seufzenden, zischenden Donner, der weithin zu hören war. In Sekundenschnelle war alles vorbei und durch die
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