Zeitspuren: Mit einem Vorwort von Wolfgang Jeschke - Meisterwerke der Science Fiction (German Edition)
Jahrzehnte lagen zwischen ihm und dem 2. Dezember 1917, dem Datum seines Todes, das Rube mir gezeigt hatte. Eines Tages würde ich meinem Sohn erzählen müssen, woher ich kam. Und ich würde ihn vor diesem Datum warnen. Er könnte sich schützen: sich an diesem Morgen krank melden, nach links gehen statt nach rechts, irgendetwas tun, irgendetwas, das die Ereignisse der nächsten Stunden leicht veränderte. Willy konnte ich darauf vorbereiten, sich selbst zu retten.
Es kam mir seltsam vor, dass ich hier in dieser ruhigen, fast leeren Lounge saß und diesen Gedanken nachhing und mir dabei klar darüber war – dass dies die Jungfernfahrt der Titanic war und zugleich ihre letzte Fahrt. Sonntag Nacht würde sie auf einem Ozean untergehen, der so erstaunlich ruhig war, dass sich die Überlebenden an das Licht der Sterne erinnern würden, die sich im Wasser spiegelten. Ebenso seltsam kam es mir vor, dass dieses große Desaster von wenigen Zentimetern abhing: Wären sie nur mit einem klein wenig größeren Abstand an dem Eisberg vorbeigefahren, hätten sie den tödlichen, unter dem Wasser liegenden Eissporn nicht gestreift, der schließlich die ganze Schiffsseite aufriss. Und sie wären triumphierend in New York eingelaufen.
Aber so? Ich ging in meine Kabine und verbrachte dort den restlichen Tag, verwirrt und niedergeschlagen. Ich wusste, was kommen würde, und trotzdem nicht, wie es abzuwenden war. Einfach warten, bis es an der Zeit war, in das fast leere Rettungsboot zu steigen?
Am nächsten Morgen duschte ich, zog mich an und beschloss, das Schiff zu durchstreifen. Ich war des Problems, meiner Kabine und des Ausblicks auf die monotone See und den durch nichts unterbrochenen Horizont überdrüssig. Hörte das Signal des Schiffes, das zum Frühstück rief, überlegte kurz und entschied mich dagegen. Ich war zu aufgeregt, um essen zu können. Ging hinaus auf das Bootsdeck, wo mich fröstelte, schnell durch die Drehtüren wieder hinein. Zwei elektrische, rotglühende Heizgeräte standen dort. Die Tageskilometer waren auf dem Nachrichtenbrett im Rauchsalon angeschlagen; ich trat näher und las die Meldung vom Vortag: von Donnerstag Mittag bis Freitag hatte die Titanic dreihundertsechsundachtzig Meilen zurückgelegt. Ein Passagier fragte den vorbeikommenden Steward, ob wir heute mehr schaffen würden; er erwiderte, dass es mehr als fünfhundert Meilen sein würden. »Entschuldigen Sie, Steward«, fragte ich, »aber – ist es möglich, mit dem Captain zu sprechen? Es ist sehr wichtig.«
»Nun, Sir, um halb elf, also in Kürze, kommt er mit seinen Offizieren zur Morgeninspektion an Deck. Ich glaube, das ist eine gute Gelegenheit, Sir.«
Also wieder hinaus aufs Deck; ich saß in einem hölzernen Liegestuhl und betrachtete fasziniert das kaum merkliche Rollen des Schiffes – die Reling des Oberdecks fiel langsam, langsam unter die ferne Horizontlinie, blieb da, verharrte … bevor sie wieder langsam nach oben ging. Es beruhigte mich; als ich das Inspektionsteam über das Deck auf mich zukommen sah, war ich überzeugt davon, dass ich das, was ich sagen wollte, auch sagen konnte.
Da kamen sie, fünf Schiffsoffiziere, alle von oben bis unten in Blau gekleidet, mit Orden und hohem Kragen, in Begleitung des Captain. Einer von ihnen machte sich Notizen, der große Kopf des Captain mit dem weißen Bart bewegte sich mit aufmerksamem Blick von rechts nach links. Er prüfte, kommentierte, nickte und lächelte den Passagieren zu, ging aber zügig weiter; zur Konversation wurde nicht ermuntert. Ich zwang mich aufzustehen und ihn anzusprechen.
»Kann ich mit Ihnen einige Worte wechseln, Captain? Es ist wirklich wichtig.«
Er sah mich genau an. »Ja, bitte?«
»Sir. Captain Smith.« Wie konnte ich mich verständlich machen? »Zufällig bin ich im Besitz von … besonderen Kenntnissen.« Klang nicht gut! Wie sollte ich es sagen? Oh, zum Teufel, sag es einfach! »Sonntag Nacht werden wir, wenn Sie diesen Kurs und diese Geschwindigkeit beibehalten, auf einen Eisberg treffen. Ganz sicher! Ich …« Ich unterbrach mich unsicher; er lächelte mich an.
»Oh, machen Sie sich keine Sorgen, machen Sie sich keine Sorgen, Sir!« Beruhigend klopfte er mir mit der Hand auf die Schulter. »Wir wissen über Eisberge Bescheid; das ist jetzt genau die Zeit der Eisberge, und wir haben viele Hinweise und Warnungen bekommen, nicht wahr, Jack?« Er blickte zu einem seiner Offiziere hin.
»Ja, Sir, von der Empress of Britain und der Touraine. Sie
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