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Zeitspuren: Mit einem Vorwort von Wolfgang Jeschke - Meisterwerke der Science Fiction (German Edition)

Zeitspuren: Mit einem Vorwort von Wolfgang Jeschke - Meisterwerke der Science Fiction (German Edition)

Titel: Zeitspuren: Mit einem Vorwort von Wolfgang Jeschke - Meisterwerke der Science Fiction (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jack Finney
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Augen von den alten Straßen und Wegen zu erheben; ich wusste, dass das zwanzigste Jahrhundert, wie mein Bild zeigt, sie unübersehbar überlagert. Ich wusste, dass ich scheitern würde, wenn ich es tat; also ließ ich es.
    Eines Nachmittags saß ich im Wohnzimmer und las; es war etwa vier Uhr – die Küchenuhr, glaubte ich mich zu erinnern, hatte vor nicht langer Zeit die volle Stunde geschlagen – , als ich von meinem Buch aufsah; irgendetwas hatte sich verändert. Ich schaute mich um, aber alles schien gleich zu sein. Dann blickte ich hoch, die Decke war heller; das Licht von draußen war anders. Und noch etwas hatte sich verwandelt. Die Wände des Gebäudes waren dick; von draußen hörte ich nichts bis auf wirklich laute Geräusche, und selbst die nur gedämpft. Aber nun konnte ich nicht einmal mehr diese hören; keine Sirenen, keine quietschenden Reifen, keinen Alarm. Die Stille war vollkommen. Dann, weit entfernt, jauchzte plötzlich ein Kind vor Freude.

    Ich trat mit meinem Buch ans Fenster und war voller Erregung; draußen lagen mindestens fünfzehn Zentimeter Neuschnee, unberührt und glitzernd, zehn Milliarden Schneeflocken huschten an meinem Fenster vorbei. Nichts rührte sich auf der Straße, geparkte Wagen waren nicht mehr zu sehen, sie waren weggefahren worden, bevor der Schnee sie zudecken konnte. Die Ampeln an den Straßen schalteten sinnlos von Grün auf Rot, von Rot auf Grün. Doch vor mir breitete sich Central Park West mit einer Decke aus frischem Weiß aus und bot einen herrlichen Anblick. Dort spielte sich auf einmal alles Leben ab: Kinder in Rot, Blau, Braun und Grün rannten herum, rutschten aus und fielen in den Schnee; sie wälzten sich darin, klopften sich ab, warfen Schneebälle und versuchten sogar Schnee zu essen. Einige hatten Schlitten, und eine kleine Gruppe rollte eine Schneekugel vor sich her, die schon fast größer war als sie selbst.
    Ich bin verrückt nach Gewittern und Schneestürmen und stand wohl eine halbe Stunde am Fenster, schaute den großen Flocken zu, die vorüberwirbelten, und sah, wie der Central Park sich zunehmend in einen Kupferstich verwandelte, während die schwarzen Zweige sich mit weißem Schnee bedeckten, sah die Pfosten und Pfeiler, die die Wege und Straßen markieren sollten, langsam verschwinden.
    Nach einer Weile machte ich mir einen Kaffee, zog den Stuhl ans Fenster und setzte mich seitwärts darauf, die Beine über die Lehne. Dann – es war zwar noch zu früh für das Abendessen, aber ich hatte Hunger – machte ich mir ein Sandwich und nahm es zusammen mit einem Apfel mit ans Fenster. Es hatte zu dämmern begonnen, die weite, weiße Schneefläche hatte einen blauen Schimmer bekommen. Ich aß und sah zu, wie der Tag verschwand. Die Ampeln an der Straßenkreuzung hatten aufgehört zu blinken; entweder waren sie abgeschaltet worden, um Strom zu sparen, oder der Sturm hatte sie außer Betrieb gesetzt. Sie sahen nun anders aus, ihre gebogenen Röhren waren hoch mit Schnee beladen; sie hätten auch Straßenlaternen sein können. In der kalten Luft wurden die Schneeflocken immer kleiner; schwacher Wind kam auf und wehte den feinen Schnee wie Nebelvorhänge durch die Lüfte. Die Sicht reichte nur noch bis zur Mitte des Parks; drüben an der östlichen Parkseite waren die Apartments bereits verschwunden; ebenso die Gebäude im Süden und natürlich auch im Norden. Die letzten Kinder gingen heim; es war sehr viel kälter geworden – ich konnte es durch die Fensterscheiben spüren –, und es war fast dunkel. Dann ging die Straßenbeleuchtung an. Nichts bewegte sich mehr draußen, nur der Schnee im Wind; die Stille war vollkommen. Ich starrte auf den Park hinab und fragte mich plötzlich, ob es im Januar 1882 auch geschneit hatte.
    Ich wusste es nicht, aber es war anzunehmen. Und wenn es der Fall gewesen war, dann glich die Szene in allem der, auf die ich nun hinabblickte; ja, sie wäre ohne jeden Unterschied genau dieselbe. Ich stand auf und betrachtete meine eigene schwache Spiegelung im Fenster. In diesen Kleidern, in diesem Raum, in diesem Gebäude hätte ich damals genauso dagestanden, wie ich nun dastand.
    Ich wandte mich wieder ab und entzündete die vielen Lampen des Lüsters, eine nach der anderen. In der Porzellankanne, die ich neben den Stuhl gestellt hatte, befand sich noch ein wenig Kaffee; ich schenkte mir eine halbe Tasse ein, die ich allerdings nicht trinken sollte. Ich setzte mich wieder an das Fenster. Um mich herum war es warm,

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