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Zeitspuren: Mit einem Vorwort von Wolfgang Jeschke - Meisterwerke der Science Fiction (German Edition)

Zeitspuren: Mit einem Vorwort von Wolfgang Jeschke - Meisterwerke der Science Fiction (German Edition)

Titel: Zeitspuren: Mit einem Vorwort von Wolfgang Jeschke - Meisterwerke der Science Fiction (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jack Finney
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zwanzigsten Jahrhundert, nicht im neunzehnten, und je weniger ich daran erinnert wurde, umso besser war es. Also stellte ich mir, während ich am Ausguss stand, einen Mann vor, der in diesem zweirädrigen Einspänner mit zurückgeschlagenem Klappdach saß. In der einen Hand hielte er die Zügel, in der anderen die Peitsche. Bis zur Hüfte wäre er in eine leichte Decke gewickelt. Er trüge einen schwarzen Cutaway und eine hohe Melone. Und Ohrschützer? Nein, so kalt war es nicht, aber Pelzhandschuhe.
    Dann sah ich im Geiste einen Mann und seine Frau in einem Landauer, die in die entgegengesetzte Richtung fuhren; die Glasscheiben glitzerten, als sie an den Straßenlaternen vorüberfuhren. Sie waren zu einem Abendessen unterwegs, nahm ich an. Mithilfe der Holzschnitte Martin Lastvogels hatte ich das Bild eines livrierten Dieners vor mir, der zwischen zwei leuchtenden Lampen auf dem Kutschbock saß. Der Mann im Wageninnern, der durch die ovale Rückscheibe zu erkennen war, trug einen schwarzen Mantel und einen Hut aus Seide, seine Frau eine runde Pelzkappe, und auch der Kragen ihres Mantels war aus Pelz. Der Landauer und der Einspänner begegneten einander in einem der gelben Lichtkreise der Laternen, und die Fahrgäste grüßten sich, die Männer tippten an ihre Hüte.
    Adelina Patti sang heute Abend in der Oper, wie ich der Evening Sun hatte entnehmen können; ungefähr zu ebendiesem Zeitpunkt, so stellte ich mir vor, überprüften Männer in Overalls und mit Schnurrbärten die Bühnenbeleuchtung; ich sah sie, wie sie jedes einzelne Licht andrehten, das Gas entzündeten, die Flamme einen Augenblick lang brennen ließen und dann wieder löschten.
    In den Ställen des Feuerwehrgebäudes, eine halbe Meile weiter südlich, striegelte ein Mann in Schaftstiefeln die Pferde und wich dabei immer wieder den durch die Luft sausenden Schwänzen und ausschlagenden Hufen aus, deren hohles Stampfen auf den dicken Planken gelegentlich zu hören war; die Beinmuskulatur der Pferde zitterte.
    Nach dem Abwasch zündete ich eine Kerze in einem Kerzenhalter aus Porzellan an, drehte die Gasleuchten über der Spüle und dem Tisch aus und ging, eine Hand schützend um die Kerzenflamme haltend, durch den langen Flur ins Wohnzimmer. Dort entzündete ich eine Wandlampe und eine Lampe auf dem Tisch neben meinem Lieblingsstuhl. Vorsichtig blinzelte ich zum Fenster hinüber – es war inzwischen dunkel geworden und nichts mehr zu sehen – und setzte mich in den Stuhl. Er war pflaumenblau bezogen, und an den Armlehnen und dem Sitz war er mit einer Million herabhängender Fransen geschmückt.
    Als die Türglocke erklang, sprang ich vor Schreck auf. Ich wäre nie auf die Idee gekommen, dass jemals jemand bei mir läuten könnte; der Junge vom Markt klopfte immer an die Tür. Ich hatte nicht einmal gewusst, dass es eine Klingel gab, und ich rannte fast, um nachzusehen, wer es war, denn ich befürchtete, dass etwas schiefgegangen war.
    Rube Prien und eine schwarzhaarige Frau mit braunen Augen standen im Gang und lächelten mich an. Er trug einen knöchellangen Mantel mit braunem Pelzbesatz, in der einen Hand hielt er eine Melone und etwas, das ich in dem matt erleuchteten Hausgang nicht erkennen konnte. Die Frau hatte einen ebenso langen marineblauen Mantel mit Kapuze an und ein unter dem Kinn gebundenes weißes Tuch auf dem Kopf. »Hallo, Si«, sagte Rube. »Wir kamen gerade vorbei und dachten, dass wir auf einen Sprung reinschauen könnten. Freut mich, Sie anzutreffen.«
    »Kommen Sie herein, kommen Sie herein!« Ich war aufgeregt wie ein kleines Kind. »Es freut mich außerordentlich.«
    Rube stellte mich der Frau vor – ihr Vorname lautete May –, und ich nahm ihnen die Sachen ab. Rube trug zwei Paar Schlittschuhe, Kufen, die an Holzgestelle montiert waren und mit Lederriemen am Fuß befestigt werden konnten. Sie wollten zum Schlittschuhlaufen in den Park, sagte er; die Flagge sei gehisst, und die Feuer seien entzündet. Er fragte mich, ob ich nicht mitkommen wolle, doch ich lehnte ab, nein, ich könne nicht Schlittschuhlaufen. Ich machte ihnen einen Kaffee; als ich ihn servierte, saß May am Harmonium und sah die Noten durch.
    Das Harmonium hatte die Form und Größe eines richtigen Klaviers und war nur geringfügig üppiger verziert als das Taj Mahal. Es bestand aus hellgelbem Holz – Eiche, glaube ich – und war unvorstellbar reich mit Schnitzwerk bedeckt: Anscheinend hatte sich eine ganze Familie von wahnsinnigen Holzschnitzern daran

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