Zeitspuren: Mit einem Vorwort von Wolfgang Jeschke - Meisterwerke der Science Fiction (German Edition)
zu schaffen gemacht und hätte das gute Stück in Grund und Boden geschnitzt, bis nur noch Späne übrig gewesen wären, hätte man sie nicht vorher gewaltsam daran gehindert. May nahm ihre Tasse; sie trug ein schlichtes, langes Wollkleid, dessen braune Farbe gut zu ihren Augen passte; eine kleine Silberbrosche steckte an dem weißen Kragen. Ihr schwarzes Haar war in der Mitte gescheitelt und am Hinterkopf zu einem Knoten aufgesteckt. Rube saß in dem Holzschaukelstuhl und sah großartig aus: Sein Anzug hatte vier Knöpfe und schmale Resers, er trug einen Eckenkragen und eine schwarze Krawatte mit goldener Nadel; seine Schuhe waren hoch, schwarz und wie meine geknöpft.
May stellte ihre Tasse ab, öffnete ein Notenblatt und spielte etwas, das ›Hide Thou Me‹ hieß, dann ›Funiculi, Funicula!‹ Sie spielte sehr gut. Rube und ich sahen ihr zu, lächelten, wippten mit den Köpfen zur Musik und gaben vor, sie zu mögen. Dann unterhielten wir uns ein wenig über das Wetter, über das Feuer gestern in der 9th Street und über den Fortschritt beim Aushub des Hudson-Tunnels. Ich bot ihnen einen Drink an, aber Rube lehnte ab, denn wenn sie noch Schlittschuh laufen wollten, dann müssten sie jetzt gehen, und so verabschiedeten sie sich. Aber es dauerte noch eine gute Stunde – so aufgeregt war ich über den Besuch –, bis ich dem Inhalt eines Buches folgen konnte, das ich zu lesen versuchte.
Der Besuch bereitete mir erst am folgenden Tag Probleme. Nach dem Frühstück und der Lektüre der Times hatte ich plötzlich genug; ich war es leid, nichts zu tun zu haben, außer für mich Theater zu spielen. Alles erschien mir unsinnig; ich stand im Wohnzimmer und warf das Buch, das ich eigentlich lesen wollte, in den Sessel. Dann stand ich da, in einer Kleidung, die plötzlich keine Kleidung mehr war, sondern ein langweiliges Kostüm, und wurde mir schmerzlich des wirklichen New York um mich herum bewusst. Die Kinos, Theater, Night Clubs, das Radio, Fernsehen und vor allem die Menschen, die ich kannte und mit denen ich zusammen sein wollte; alles, was ich tun musste, war, einfach hinauszugehen. Flugzeuge flogen über die Stadt hinweg; ich konnte sie hören. Autos verstopften die Straßen, und vor meinem inneren Auge erhob sich die Stadt aus Glas, Stahl und Beton. Das New York der Achtzigerjahre des neunzehnten Jahrhunderts war tot.
Aber genauso schnell, wie mein Überdruss gekommen war, erlosch er auch wieder, und ich merkte, dass es mir nicht schwerfallen würde, mich wieder in die Gegebenheiten zu fügen. Ich nehme an, fast jeder kennt diese Erfahrung während eines Urlaubs in einem abgelegenen Gebiet ohne Zeitungen und Fernsehen. Unter diesen Bedingungen wird das Bild der Welt, die man zurückgelassen hat, unscharf, und die reale Welt ist, wo man sich gerade aufhält oder was man gerade tut.
Das geschah auch hier. Der Gedanke, einen Fernsehapparat einzuschalten, lag mir sehr fern. Die Erinnerung an das Gefühl, wie es ist, hinter dem Steuer eines Autos zu sitzen, war verschwommen. Und die letzten nationalen oder internationalen Nachrichten, die ich gehört hatte, waren längst schal geworden. Alle Erinnerungen an die Welt, die ich verlassen hatte, hatten offenbar an Lebendigkeit eingebüßt. Und da das meiste, was wir tun, denken und fühlen, der Gewohnheit entspringt, fiel es mir nicht sonderlich schwer, das Buch wieder in die Hand zu nehmen und dort weiterzulesen, wo ich in der Nacht zuvor aufgehört hatte, in derselben Stimmung.
Je mehr Tage jedoch verstrichen, desto mehr war ich davon überzeugt, dass die Sache scheitern würde. Die Zeit floss dahin wie für einen Genesenden; stetig, ohne Anstrengung, ohne wirkliche Langeweile oder Unruhe. Die Stunden und Tage verschwanden beinahe unbemerkt wie schmelzendes Eis. Die Welt draußen war weit, weit weg, meine Routine war die einzige Wirklichkeit. Alles um sie herum bestand aus dem 15., 16., 17., 18., 19. Januar 1882, und fast, fast war ich davon überzeugt, dass es wirklich so war. Aber draußen … Von hier oben schien der Central Park unverändert, bis auf die Gebäude, die ihn umrahmten. Oft blickte ich nun, spät abends oder in der Morgendämmerung, in den Park hinab und versuchte das Gefühl der Welt des neunzehnten Jahrhunderts wachzurufen, die dahinter verborgen lag. Aber als ich schon nahe daran war zu glauben, es könnte mir gelingen, fuhr ein brauner Mustang mit Aluminiumfelgen und Heckspoiler durch die Szenerie. Und niemals mehr wagte ich es, meine
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