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Zelot

Zelot

Titel: Zelot Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reza Aslan
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und eine Person sieht, die er als «Sohn des Menschen, dem die Rechtschaffenheit gehört» erkennt. Er nennt diese Gestalt den «Auserwählten» und unterstellt, er sei von Gott vor der Schöpfung dazu ausersehen worden, auf die Erde zu kommen und im Namen Gottes Gericht zu halten. Ihm werde ewige Macht und Königsherrschaft über die Erde zuteil, und er werde ein Feuergericht über die Könige dieser Welt kommen lassen. Die Reichen und Mächtigen würden um seine Gnade bitten, doch Gnade solle ihnen nicht zuteil werden. Gegen Ende des Abschnitts stellt der Leser jedoch fest, dass dieser Menschensohn in Wahrheit Henoch selbst ist.
    Im 4 . Buch Esra entsteigt der Menschensohn «auf den Wolken des Himmels fliegend» dem Meer. Wie bei Daniel und Henoch kommt auch Esras Menschensohn, um die Bösen zu richten. Betraut mit der Aufgabe, die zwölf Stämme Israels wiederherzustellen, wird er seine Streitmacht auf dem Berg Zion versammeln und die Armeen der Menschen zerstören. Esras apokalyptischer Richter wird zwar als «etwas wie die Gestalt eines Menschen» beschrieben, doch ist er kein gewöhnlicher Sterblicher. Er ist ein präexistentes Wesen mit übernatürlichen Kräften, aus dessen Mund Feuer schießt, um die Feinde Gottes zu vernichten.
    Sowohl das 4 . Buch Esra als auch die
Gleichnisse
von Henoch wurden gegen Ende des 1 . Jahrhunderts geschrieben, nach der Zerstörung von Jerusalem und lange nach Jesu Tod. Ohne Zweifel beeinflussten diese beiden apokryphen Texte die Frühchristen, die das darin beschriebene, spirituellere Menschensohn-Ideal eines präexistenten Wesens übernahmen, um Jesu Mission und Identität neu zu deuten und zu erklären, warum es ihm nicht gelungen war, auch nur eine seiner messianischen Funktionen auf Erden zu erfüllen.
    Insbesondere das Matthäus-Evangelium, das etwa zur selben Zeit wie die
Gleichnisse
und das 4 . Buch Esra verfasst wurde, scheint sich in seiner Bildsprache großzügig aus diesen Texten zu bedienen, etwa mit dem «Thron seiner Herrlichkeit», auf welchem der Menschensohn am Ende der Zeiten sitzt (Mt  19 , 28 ; 1  Henoch  62 , 5 ), und dem «Feuerofen», in den er alle Übeltäter werfen wird (Mt  13 , 42 – 42 ; 1  Henoch  54 , 3 – 6 ) – keine dieser Passagen taucht irgendwo anders im Neuen Testament auf. Es steht allerdings außer Frage, dass Jesus von Nazaret, der mehr als 60  Jahre vor der Niederschrift der
Gleichnisse
und des 4 . Buches Esra starb, von keinem der beiden beeinflusst werden konnte. Somit könnte es durchaus sein, dass das bei Esra/Henoch gezeichnete Bild eines von Gott zu Anbeginn der Zeit auserwählten ewigen Menschensohnes, der in Gottes Namen die Menschheit richten und die Erde beherrschen wird, schließlich auf Jesus übertragen wurde (und zwar dergestalt, dass zu der Zeit, als Johannes sein Evangelium schrieb, der Menschensohn bereits eine rein göttliche Figur war: der
logos
 – ganz ähnlich dem frühesten Menschen im 4 . Buch Esra). Jesus selbst allerdings begriff «Menschensohn» bestimmt nicht auf dieselbe Weise.
    Akzeptiert man den allgemeinen Konsens, dass sich Jesu «Menschensohn» hauptsächlich, wenn nicht ausschließlich auf das Buch Daniel bezieht, dann sollte man sich diejenige Passage in den Evangelien genauer ansehen, in der Jesu Gebrauch des Titels dem Daniels am nächsten kommt. So lässt sich feststellen, was Jesus damit gemeint haben könnte. Es trifft sich, dass genau dieser Menschensohn-Ausspruch, der gegen Ende von Jesu Leben stattfindet, derjenige ist, über den sich die meisten Wissenschaftler dahingehend einig sind, dass er authentisch und auf den historischen Jesus zurückzuführen ist.
    Den Evangelien zufolge ist Jesus vor den Sanhedrin gezerrt worden, um sich für die Anschuldigungen zu verantworten, die man gegen ihn vorbringt. Während die Hauptpriester, Ältesten und Schriftgelehrten einer nach dem anderen Jesus beschuldigen, sitzt dieser teilnahmslos, schweigend und ohne jede Reaktion da. Schließlich erhebt sich der Hohepriester Kajaphas und fragt Jesus direkt: «Bist du der Messias?»
    Es ist hier, am Ende der Reise, die an den heiligen Ufern des Jordan begann, dass das Messiasgeheimnis endlich gelüftet und Jesu wahre Identität scheinbar offenbart wird.
    «Ich bin es», antwortet Jesus.
    Doch sofort darauf wird diese bisher klarste und prägnanteste Aussage Jesu über seine messianische Identität durch eine ekstatische Mahnrede verwässert, die sich direkt im Buch Daniel bedient und erneut

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