Zelot
für Verwirrung sorgt: «Und ihr werdet den Menschensohn zur Rechten der Macht sitzen und mit den Wolken des Himmels kommen sehen.» (Mk 14 , 62 ) Die erste Hälfte von Jesu Antwort auf die Frage des Hohepriesters ist eine Anspielung auf die Psalmen, in denen Gott König David verspricht, dass er zu seiner Rechten sitzen und ihm seine «Feinde als Schemel unter die Füße» legen werde (Ps 110 , 1 ). Die Formulierung «mit den Wolken des Himmels» hingegen ist eine direkte Bezugnahme auf den Menschensohn in Daniels Vision (Dan 7 , 13 ).
Dies ist nicht das erste Mal, dass Jesus die Zuschreibung der messianischen Identität nutzt, um über den Menschensohn zu sprechen. Nach Petrus’ Bekenntnis bei Cäsarea Philippi gebietet ihm Jesus zunächst, zu schweigen, dann jedoch führt er aus, wie der Menschensohn leiden und abgewiesen werden müsse, bevor er getötet und drei Tage später auferstehen werde (Mk 8 , 31 ). Nach der Verklärung schwört Jesus die Jünger auf Stillschweigen ein, «bis der Menschensohn auferstünde von den Toten» (Mk 9 , 9 ). In beiden Fällen wird deutlich, dass Jesu Auffassung vom Menschensohn es ist, dass dieser Vorrang vor der zugeschriebenen Identität als Messias hat. Selbst am Ende seines Lebens, als er seinen Anklägern gegenübersteht, ist er nur dann gewillt, den generischen Titel des Messias zu akzeptieren, wenn sich dieser seiner spezifischen Auslegung à la Daniels «Menschensohn» anpassen lässt.
Dies legt nahe, dass der Schlüssel zum Verständnis des Messiasgeheimnisses und somit zu Jesu eigenem Selbstverständnis in der Entschlüsselung seiner einzigartigen Interpretation des «einen wie ein Menschensohn» bei Daniel liegt. Hier kann man Jesu Auffassung seiner eigenen Identität am nächsten kommen. Die seltsame Menschensohn-Gestalt bei Daniel wird zwar nie explizit als Messias identifiziert, doch nennt er sie klar und unzweifelhaft einen
König
– einen, der in Gottes Namen über alle Völker der Erde herrschen wird. Könnte das also der Grund dafür sein, dass sich Jesus den seltsamen Titel «Menschensohn» gibt? Nennt er sich selbst einen König?
Sicher, Jesus spricht ausführlich über den Menschensohn, und oft auf widersprüchliche Weise. Er ist mächtig (Mk 14 , 62 ), doch leidet er (Mk 13 , 26 ). Er ist gegenwärtig auf Erden (Mk 2 , 10 ), kommt jedoch erst in der Zukunft (Mk 8 , 38 ). Er wird von den Menschen abgewiesen (Mk 10 , 34 ), wird jedoch über sie richten (Mk 14 , 62 ). Er ist sowohl Herr (Mk 8 , 38 ) als auch Diener (Mk 10 , 45 ).
Was bei oberflächlicher Betrachtung als eine Reihe widersprüchlicher Aussagen erscheint, stimmt in Wahrheit jedoch in weiten Teilen damit überein, wie Jesus das Königreich Gottes beschreibt. Tatsächlich sind die beiden Vorstellungen – der Menschensohn und das Königreich Gottes – in den Evangelien häufig miteinander verbunden, als stünden sie für ein und dasselbe Konzept. Sie werden mit auffällig ähnlichen Begriffen beschrieben und erscheinen gelegentlich sogar als austauschbar, etwa, wenn Matthäus den berühmten Vers aus Markus 9 , 1 – «Und er sagte zu ihnen: Amen, ich sage euch: Von denen, die hier stehen, werden einige den Tod nicht erleiden, bis sie gesehen haben, dass
das Reich Gottes
in (seiner ganzen) Macht gekommen ist» – in «Amen, ich sage euch: Von denen, die hier stehen, werden einige den Tod nicht erleiden, bis sie
den Menschensohn in seiner königlichen Macht
kommen sehen» umformuliert (Mt 16 , 28 ).
Indem er einen Begriff gegen den anderen austauscht, impliziert Matthäus, dass das Königreich des Menschensohnes dasselbe ist wie das Königreich Gottes. Und da das Königreich Gottes auf einer vollkommenen Umkehrung der bestehenden Ordnung gründet, bei der die Armen mächtig und die Schwachen stark werden, gäbe es wohl kaum einen besseren König als einen, der diese neue soziale Ordnung selbst verkörpert. Einen Bauernkönig. Einen König ohne einen Platz, wo er sein Haupt zum Schlafen niederlegen kann. Einen König, der gekommen ist, zu dienen, und nicht, damit ihm gedient wird. Einen König, der auf einem Esel reitet.
Wenn sich Jesus Menschensohn nennt und die Beschreibung Daniels als Titel gebraucht, macht er eine klare Aussage darüber, wie er seine Identität und seine Mission sieht. Er assoziiert sich mit dem Paradigma des davidischen Messias, dem König, der im Namen Gottes über die Erde herrschen wird, der die zwölf Stämme Israels (in Jesu Falle
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