Zelot
getötet wurde, und er sollte nicht der einzige bleiben. Es mutet seltsam an, dass der erste Mann, der zum Märtyrer wurde, weil er Jesus als «Christus» bezeichnete, Jesus von Nazaret gar nicht persönlich kannte. Stephanus war schließlich kein Jünger. Er war dem galiläischen Bauern und Tagelöhner, der den Thron im Königreich Gottes für sich beanspruchte, nie begegnet. Er hatte Jesus nicht begleitet und nicht mit ihm gesprochen. Er war nicht Teil der ekstatischen Menschenmenge, die Jesus in Jerusalem als rechtmäßigen Herrscher über die Stadt empfing. Er nahm nicht an der Tempelreinigung teil. Er war nicht zugegen, als Jesus verhaftet und wegen Volksverhetzung angeklagt wurde. Er sah Jesus nicht sterben. Stephanus erfuhr von Jesus von Nazaret erst nach dessen Kreuzigung. Als griechischsprachiger Jude, der in einer der hellenistischen Provinzen außerhalb des Heiligen Landes lebte, war Stephanus gemeinsam mit Tausenden anderer Diasporajuden als Pilger nach Jerusalem gekommen. Wahrscheinlich brachte er gerade den Tempelpriestern seine Opfergaben dar, als er eine Gruppe hauptsächlich galiläischer Bauern und Fischer bemerkte, die im Heidenvorhof herumliefen und von einem einfachen Nazoräer predigten, den sie den Messias nannten.
An sich wäre ein solcher Anblick im alten Jerusalem nichts Ungewöhnliches gewesen, schon gar nicht an Feier- und Festtagen, wenn Juden aus dem ganzen römischen Imperium in die Heilige Stadt kamen, um im Tempel zu opfern. Jerusalem war für die Juden das Zentrum spiritueller Aktivität, das kultische Herz der jüdischen Nation. Jeder Sektierer, jeder Fanatiker, jeder Zelot, Messias und selbsternannte Prophet fand irgendwann den Weg nach Jerusalem, um zu missionieren oder zu verdammen, um Gottes Gnade zu verkünden oder vor Gottes Zorn zu warnen. Die Feste waren eine ideale Zeit für solche Schismatiker, um ein möglichst breites und internationales Publikum zu erreichen.
Als Stephanus nun die Schar haariger Männer und zerlumpter Frauen unter einem Säulengang im äußeren Vorhof des Tempels erblickte – einfache Provinzler, die ihre Besitztümer verkauft und den Erlös den Armen gegeben hatten; die alles gemeinsam besaßen und selbst nichts außer ihren Tuniken und Sandalen hatten –, schenkte er ihnen anfangs vermutlich kaum Aufmerksamkeit. Möglicherweise horchte er auf, als diese Schismatiker verkündeten, sie folgten einem Messias, der bereits getötet (und zwar gekreuzigt!) worden sei. Vielleicht war er erstaunt, zu erfahren, dass Jesus trotz der unstrittigen Tatsache, dass er durch seinen Tod
per Definition
als Befreier Israels ausfiel, von seinen Anhängern immer noch als Messias bezeichnet wurde. Doch selbst das wäre in Jerusalem nicht vollkommen unerhört gewesen. Predigten nicht auch die Anhänger von Johannes dem Täufer von ihrem verstorbenen Meister, tauften sie nicht immer noch in seinem Namen?
Was Stephanus’ Aufmerksamkeit aber bestimmt erregte, war die verblüffende Behauptung dieser Juden, ihr Messias sei, im Gegensatz zu allen anderen von Rom Gekreuzigten, nicht am Kreuz hängen geblieben, wo sein Körper bis auf die Knochen von den gierigen Vögeln abgenagt worden wäre, die Stephanus beim Eintritt in die Stadt über Golgota hatte kreisen sehen. Nein, die Leiche dieses speziellen Bauern – dieses Jesus von Nazaret – hatte man vom Kreuz abgenommen und in einem extravaganten Felsengrab bestattet, wie es den reichsten Männern Judäas zugestanden hätte. Noch bemerkenswerter war, dass seine Anhänger behaupteten, ihr Messias sei drei Tage nach seiner Bestattung in diesem Reichengrab wieder zum Leben auferstanden. Gott habe ihn wiedererweckt, aus der Umklammerung des Todes befreit. Der Sprecher der Gruppe, ein Fischer aus Kafarnaum namens Simon Petrus, schwor, wie viele andere von ihnen auch, er habe diese Wiederauferstehung mit eigenen Augen gesehen.
Dies war freilich nicht die Auferstehung, welche die Pharisäer am Ende der Zeiten erwarteten und die von den Sadduzäern geleugnet wurde. Die Gräber waren nicht aufgesprungen, die Erde hatte nicht die begrabenen Massen freigegeben, wie es der Prophet Jesaja vorhergesagt hatte (Jes 26 , 19 ). Dies hatte nichts zu tun mit der «Auferweckung Israels», die Ezechiel prophezeit hatte, bei welcher Gott den trockenen Knochen der Nation neues Leben einhaucht (Ez 37 ). Es handelte sich um ein einzelnes Individuum, das tagelang tot und unter Fels begraben gelegen hatte, plötzlich auferstanden war und aus
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