Zelot
Jesus von Nazaret wüsste, als dass er von Rom gekreuzigt wurde, wüsste man praktisch alles, was man brauchte, um aufzudecken, wer er war, was er war und warum er an einem Kreuz endete. Sein Vergehen lag nach Meinung Roms offen zutage. Es wurde auf eine Tafel geritzt und über seinem Kopf angebracht, sodass alle es sehen konnten:
Jesus von Nazaret, König der Juden
. Sein Verbrechen war, dass er gewagt hatte, Anspruch auf die Königsherrschaft zu erheben.
Die Evangelien bezeugen, dass Jesus zusammen mit anderen
lestai
oder Banditen gekreuzigt wurde: Revolutionäre, wie er einer war. Lukas, dem die Implikationen des Begriffes offenbar peinlich waren, änderte
lestai
zu
kakourgoi
oder «Übeltäter». Aber so sehr er es auch versuchte – Lukas konnte die grundlegendste Tatsache in Bezug auf seinen Messias nicht umgehen: Jesus wurde vom römischen Staat wegen des Verbrechens der Aufwiegelung zum Aufruhr hingerichtet. Alles andere über die letzten Tage des Jesus von Nazaret muss vor dem Hintergrund dieser einzigen, nicht wegzudiskutierenden Tatsache gesehen werden.
Man kann also den theatralischen Prozess vor Pilatus aus all den oben genannten Gründen als reine Phantasie abtun. Falls Jesus tatsächlich vor Pilatus erschien, war es ein kurzer und für Pilatus völlig nebensächlicher Auftritt. Der Statthalter schaute womöglich gar nicht lange genug von seinen Akten auf, um Jesu Gesicht wahrzunehmen, geschweige denn, dass er sich auf eine längere Diskussion über die Bedeutung von Wahrheit mit ihm einließ.
Er stellte diese eine Frage: «Bist du der König der Juden?» Er nahm Jesu Antwort zur Kenntnis. Er trug das Verbrechen in die Akte ein. Und er schickte Jesus zu den zahllosen anderen Sterbenden oder schon Toten nach Golgota.
Selbst der frühere Prozess vor dem Sanhedrin muss im Lichte des Kreuzes noch einmal neu untersucht werden. Die Geschichte jenes Prozesses, wie die Evangelien sie präsentieren, ist voller Widersprüche und Ungereimtheiten, doch grob gesagt passiert Folgendes: Jesus wird abends verhaftet, kurz vor dem Sabbat, am Paschafest. Er wird im Schutze der Nacht zum Hof des Hohepriesters gebracht, wo die Mitglieder des Sanhedrin ihn schon erwarten. Sofort taucht eine Gruppe Zeugen auf und sagt aus, dass Jesus Drohungen gegen den Tempel von Jerusalem ausgestoßen hat. Als Jesus sich weigert, auf diese Vorwürfe zu antworten, fragt ihn der Hohepriester direkt, ob er der Messias sei. Jesu Antwort ist in allen vier Evangelien verschieden, aber immer kommt darin vor, dass er «der Menschensohn» sei. Diese Aussage erzürnt den Hohepriester, der Jesus sofort Blasphemie vorwirft, worauf als Strafe der Tod steht. Am nächsten Morgen schickt der Sanhedrin Jesus zur Kreuzigung zu Pilatus.
Es gibt zahllose Probleme bei dieser Szene. Der Prozess vor dem Sanhedrin verletzt praktisch alle Anforderungen des jüdischen Gesetzes für ein Gerichtsverfahren. Die Mischna ist da ganz eindeutig. Der Sanhedrin darf nicht nachts zusammentreten. Er darf nicht am Paschafest zusammentreten. Er darf nicht am Vorabend des Sabbat zusammentreten. Und ganz sicher darf er nicht so formlos im Hof (
aule
) des Hohepriesters zusammentreten, wie Matthäus und Markus behaupten. Dann muss die Sitzung mit einer ausführlichen Auflistung der Gründe, warum der Angeklagte womöglich unschuldig ist, beginnen, bevor irgendwelche Zeugen auftreten dürfen. Das Argument, dass die von den Rabbis in der Mischna niedergelegten Prozessregeln in jener Zeit, als Jesus vor Gericht stand, noch nicht zur Anwendung kamen, geht ins Leere, wenn man sich in Erinnerung ruft, dass die Evangelien gar nicht in jener Zeit geschrieben wurden. Der gesellschaftliche, religiöse und politische Kontext der Erzählung vom Prozess Jesu vor dem Sanhedrin war das rabbinische Judentum nach 70 n. Chr.: die Zeit der Mischna. Diese krassen Ungenauigkeiten zeigen ganz deutlich die überaus schwachen Kenntnisse der Evangelisten, was das jüdische Gesetz und die Praxis des Sanhedrin angeht. Schon dies allein sollte Zweifel an der Historizität des Prozesses vor Kajaphas wecken.
Selbst wenn man über alle oben angeführten Verstöße hinwegsieht, bleibt noch der verstörendste Aspekt des Prozesses vor dem Sanhedrin – das Urteil. Falls der Hohepriester Jesus tatsächlich nach dessen messianischen Ansprüchen befragte und falls Jesu Antwort tatsächlich blasphemisch zu werten war, konnte die Aussage der Tora in Bezug auf die zu verhängende Strafe nicht klarer sein:
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