Zelot
einer, der zur Rechten Gottes sitzt, ebenbürtig in Herrlichkeit und Ehre; der in Form und Substanz
Gott in Fleischesgestalt
ist.
Mehr bedarf es nicht, damit die Steine zu fliegen beginnen. Man muss wissen, dass es für einen Juden keine größere Blasphemie gibt als das, was Stephanus sagt. Die Behauptung, ein Einzelner sei gestorben und zu ewigem Leben auferstanden, mag im Judentum beispiellos gewesen sein. Die Anmaßung jedoch, Jesus als «Gott-Mensch» darzustellen, war schlicht nicht hinnehmbar.
Was Stephanus inmitten seines Todeskampfes hinausschreit, ist nichts anderes als die Ausrufung einer ganz neuen Religion, einer Religion, die sich ebenso radikal wie unversöhnlich von allem abkehrt, was Stephanus’ eigene Religion jemals über das Wesen Gottes, des Menschen und über die Beziehung beider zueinander postulierte. Man könnte sagen, dass an diesem Tag nicht nur Stephanus vor den Toren Jerusalems starb. Mit ihm unter dem Steinhaufen begraben liegt die letzte Spur jener historischen Person, die man als Jesus von Nazaret kannte. Die Geschichte des eifernden galiläischen Bauern und jüdischen Nationalisten, der die Rolle des Messias einnahm und eine tollkühne Rebellion gegen die korrupte Priesterschaft des Tempels und die grausame römische Besatzung anzettelte, findet ein abruptes Ende – nicht mit seinem Tod am Kreuz oder dem leeren Grab, sondern in dem Augenblick, da einer seiner Anhänger erstmals zu mutmaßen wagt, er sei Gott.
Stephanus fand seinen Märtyrertod irgendwann zwischen 33 und 35 n. Chr. Unter denjenigen in der Menge, die seine Steinigung guthießen, war ein frommer junger Pharisäer aus Tarsus, einer reichen römischen Stadt am Mittelmeer. Sein Name war Saulus. Dieser war ein wahrhafter Zelot, ein glühender Verfechter des Gesetzes Mose, der sich dadurch einen Namen gemacht hatte, dass er Gotteslästerungen wie die des Stephanus gewaltsam unterdrückte. Um 49 n. Chr., also nur etwa 15 Jahre, nachdem er Stephanus mit Freuden hatte sterben sehen, schrieb derselbe fanatische Pharisäer – inzwischen ein glühender christlicher Konvertit namens Paulus – einen Brief an seine Freunde in der griechischen Stadt Philippi, in dem er Jesus von Nazaret eindeutig und ohne Vorbehalte «Gott» nannte: «Er war Gott gleich, hielt aber nicht daran fest, wie Gott zu sein, sondern er entäußerte sich und wurde wie ein Sklave und den Menschen gleich.» (Phil 2 , 6 – 7 )
Wie konnte das geschehen? Wie konnte ein gescheiterter Messias, der einen schmachvollen Tod als Staatsfeind gestorben war, innerhalb weniger Jahre zum Schöpfer des Himmels und der Erde, zur Inkarnation Gottes werden?
Die Antwort auf diese Frage beruht auf der Erkenntnis dieser einen bemerkenswerten Tatsache: Praktisch alles, was jemals über Jesus von Nazaret geschrieben wurde, darunter auch die Evangelien von Markus, Matthäus, Lukas und Johannes, wurde von Menschen wie Stephanus oder Paulus verfasst, die Jesus zu dessen Lebzeiten nicht gekannt hatten (man darf nicht vergessen, dass die Evangelien nicht von denjenigen geschrieben wurden, nach denen sie benannt sind, möglicherweise allerdings mit Ausnahme des Lukas-Evangeliums). Diejenigen, die Jesus kannten – die ihn als König Jerusalems in die Stadt begleitet und ihm geholfen hatten, den Tempel zu reinigen, die bei seiner Verhaftung zugegen gewesen waren und ihn einen einsamen Tod hatten sterben sehen –, spielten eine überraschend untergeordnete Rolle bei der Definition der Bewegung, die Jesus hinterlassen hatte. Die Mitglieder von Jesu Familie, insbesondere sein Bruder Jakobus, der die Gemeinde in Jesu Abwesenheit leitete, waren in den Jahrzehnten nach der Kreuzigung sicherlich einflussreich. Dieser Einfluss wurde jedoch durch ihre Entscheidung geschmälert, mehr oder weniger versteckt in Jerusalem auszuharren und auf die Rückkehr Jesu zu warten. Im Jahre 70 n. Chr. wurden sie mitsamt ihrer Gemeinde und den meisten anderen Einwohnern der Heiligen Stadt von den Soldaten des Titus umgebracht.
Die Apostel indes, die Jesus mit der Aufgabe betraut hatte, seine Botschaft zu verbreiten, verließen Jerusalem und schwärmten mit der frohen Kunde über das ganze Land aus. Sie waren jedoch in ihrer Tätigkeit extrem eingeschränkt, weil sie nicht in der Lage waren, den neuen Glauben theologisch zu erläutern oder lehrreiche Geschichten über Leben und Tod Jesu zu erfinden. Schließlich waren es Bauern und Fischer; sie konnten weder lesen noch schreiben.
Die
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