Zelot
Reaktion entfernten die Behörden systematisch die Hellenisten aus Jerusalem – ein Vorgehen, gegen welches die Hebräer interessanterweise kaum etwas einzuwenden hatten. Die Tatsache, dass die Jerusalemer Gemeinde nach Stephanus’ Tod noch jahrzehntelang im Schatten des Tempels gedieh, deutet vielmehr darauf hin, dass die Hebräer durch die Hellenistenverfolgung mehr oder weniger unbehelligt blieben. Es schien, als hätten die priesterlichen Behörden keinerlei Verbindung zwischen den beiden Gruppierungen erkannt.
In der Zwischenzeit strömen die vertriebenen Hellenisten zurück in die Diaspora. Bewaffnet mit der Botschaft, die sie von den Hebräern in Jerusalem übernommen haben, beginnen sie, diese auf Griechisch unter den anderen Diasporajuden zu verbreiten, in den heidnischen Städten Aschdod und Cäsarea, in den Küstengebieten von Syrien-Palästina, auf Zypern, in Phönizien und in Antiochia, jener Stadt, in der sie erstmals als Christen bezeichnet werden (Apg 11 , 27 ). Im Laufe des folgenden Jahrzehnts mausert sich die von einer Gruppe ländlicher Galiläer gegründete Sekte nach und nach zu einer Religion urbanisierter, Griechisch sprechender Gläubiger.
Ohne die Zwänge des Tempels und des jüdischen Kults begannen die hellenistischen Prediger die Botschaft Jesu schrittweise von ihrem nationalistischen Anliegen zu entkleiden und verwandelten sie in einen universellen Aufruf, der die in einem griechisch-römischen Umfeld lebenden Menschen mehr ansprach. Dabei befreiten sie sich selbst von den strikten Regeln der jüdischen Gesetze, bis diese keine übergeordnete Bedeutung mehr besaßen. Jesus sei nicht gekommen, um das Gesetz zu erfüllen, argumentierten die Hellenisten. Vielmehr sei er gekommen, es abzuschaffen. Nicht die Priester habe er verachtet, die den Tempel mit ihrem Reichtum und ihrer Heuchelei entweihten. Seine Verachtung habe dem Tempel selbst gegolten.
Zu diesem Zeitpunkt predigten die Hellenisten immer noch ausschließlich ihren jüdischen Mitbürgern, wie Lukas in der Apostelgeschichte schreibt: «… doch verkündeten sie das Wort nur den Juden.» (Apg 11 , 19 ) Es war immer noch eine vorrangig jüdische Bewegung, die durch die theologische Experimentierfreude erblühte, welche das Leben in der Diaspora des römischen Imperiums kennzeichnete. Dann aber wurde vereinzelt damit begonnen, auch Nichtjuden das Evangelium zu verkünden, «und viele wurden gläubig und bekehrten sich zum Herrn». Die Missionierung der Heiden hatte keinen Vorrang – noch nicht. Doch je weiter sich die Hellenisten von Jerusalem und dem Herzen der Jesus-Bewegung entfernten, desto mehr veränderte sich auch ihr Fokus, der sich nun nicht mehr auf eine ausschließlich jüdische Zielgruppe, sondern auf eine vorrangig nichtjüdische richtete. Je größere Bedeutung die Bekehrung von Nichtjuden gewann, desto mehr synkretistische Vorstellungen aus dem griechischen Gnostizismus und den römischen Religionen schlichen sich in die Bewegung ein. Und je stärker die Bewegung von diesen neuen, «heidnischen» Konvertiten geprägt wurde, desto energischer legte sie ihre jüdische Vergangenheit zugunsten einer griechisch-römischen Zukunft ab.
Bis dahin sollten jedoch noch viele Jahre vergehen. Erst nach der Zerstörung Jerusalems im Jahre 70 n. Chr. wurde die Missionierung der Juden aufgegeben und das Christentum zu einer romanisierten Religion umgewandelt. Doch wurden die Weichen für eine nichtjüdische Dominanz bereits auf dieser frühen Stufe der Jesus-Bewegung gestellt, wenngleich der Umkehrpunkt erst kam, als ein junger Pharisäer und hellenistischer Jude aus Tarsus namens Saulus – derselbe Saulus, der billigend der Steinigung des Stephanus beigewohnt hatte – auf der Straße nach Damaskus dem auferstandenen Jesus begegnete und sich fortan Paulus nannte.
Kapitel vierzehn
Bin ich nicht ein Apostel?
Als Saulus von Tarsus Jerusalem verließ, um jene Hellenisten zu finden und zu bestrafen, die nach der Steinigung des Stephanus aus Damaskus geflohen waren, wünschte er den Jüngern immer noch Mord und Totschlag an den Hals. Saulus war vom Hohepriester nicht dazu aufgefordert worden, Jagd auf diese Anhänger Jesu zu machen; er tat es aus freien Stücken. Als gebildeter, Griechisch sprechender Diasporajude und Bürger einer der reichsten Hafenstädte des römischen Imperiums war Saulus ein eifriger Diener des Tempels und der Tora. «Ich wurde am achten Tag beschnitten, bin aus dem Volk Israel, vom Stamm
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