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Zementfasern - Roman

Zementfasern - Roman

Titel: Zementfasern - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Verlag Klaus Wagenbach <Berlin>
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aussahen, einer über dem anderen, die einander aufsaugten und ableckten und verfluchten, beschloss er, dass es besser war, so zu tun, als hätte er sie nicht gesehen.
    Zweihundert Meter vor der Piazza hatte sich ein Stau gebildet. Die Madonnenmaler zeichneten mit bunter Kreide Bilder des Heiligen auf den Asphalt, die Menge drängte sich gegen die Hausmauern, doch in der Luft verbreitete sich hypnotisch eine Musik. Musik von einer Ziehharmonika, die sich im Kopf festsetzte, und über ihr strömte eine warme, fröhliche Stimme, auch sie trug zur Verwirrung bei. Die Stimme erhob sich weich, träumerisch, sanft, Mimi spürte, dass es sie zu dieser Melodie hinzog. Hinter einem Gartentor, in einem verlassenen Hof drängte sich eine kleine Menschenmenge um einen Maulbeerbaum, der Stamm war knotig wie ein Geflecht aus lauter kleinen Stämmen, die Zweige waren Bögen aus Laub, von denen bunte Bänder herabhingen. Die Menschen drängelten sich um den Baum, und aus ihrer Mitte kamen der freundliche Klang der Ziehharmonika und die jungenhafte Stimme.
    Mimi blickte in die Richtung, in die die Leute drängten, ihr Atem ging langsamer und wurde zu einem Teil der Harmonie. Ein Mann mit hellem Bart und blonden Locken, das Gesicht gerötet und von Schweißperlen gefurcht, drückte den Bauch der Ziehharmonika zusammen und zog ihn wieder auseinander. Mimi war fasziniert, nicht nur von der Musik und der Stimme, die die Lieder blank begleitete, Weisen, die nach Zigeunermusik klangen und sehr weit entfernt waren von allem, woran sie seit jeher gewöhnt war. Es war die ganze Szene, es waren die gedämpften Lichter, die vom draußen explodierenden Fest in den Hof fielen, und das Schweigen der kleinen Menge um den Mann mit dem betörenden Haar.
    Nachdem der Musikant das Stück gespielt hatte, stellte er die Ziehharmonika auf den Boden, und Mimi konnte seinen stämmigen Körper sehen, die nackte, mit blondem Flaum bedeckte Brust. Der Ziehharmonikaspieler nahm einen Schluck aus dem gläsernen
soldatino
, einer kleinen Flasche Bier, die zu seinen Füßen schimmerte. Er lächelte den Leuten zu, die ihm etwas gaben, eine nach der anderen wurden die Münzen auf einem roten Taschentuch abgelegt und funkelten im Halbdunkel des Hofes.
    Daran, wie der Mann vor dem nächsten Stück ein paar Worte hervorstieß, erkannte Mimi, dass er Ausländer war. Eine dunkle Wolke stieg in ihrer Brust auf, sie liebte die fahrenden Musikanten, so einer hatte ihr vor Jahren einen Türkisring geschenkt, andere hatten sie auf den Straßen ihres Heimatortes zum Tanzen gebracht, wieder andere hatten sie eine Stunde lang verliebt gemacht. Doch nie zuvor hatte sie sich so heftig, so plötzlich zu jemandem hingezogen gefühlt, der wirklich ein Fremder war.
    Die Musik spielte weiter, und Mimi wiegte sich mit geschlossenen Augen und gesenktem Kopf, manchmal hob sie den Kopf und richtete ihren Blick auf die Augen des Fremden. Der Mann lächelte dem ganzen Publikum zu und bemerkte vielleicht nicht sofort, dass die Frau mit der braunen Haut und dem gelben Kleid, das im Halbdunkel von goldenen Reflexen durchtränkt wurde, seinen Blick suchte. Als das letzte Stück beendet war, trat Mimi mit der Unverfrorenheit, die in einem kühnen Herzen wurzelte, auf ihn zu.
    »Wie heißt du?«
    Der Mann antwortete nicht. Er hielt den Kopf über sein Instrument gesenkt, schien in seinen Taschen zu wühlen. Mimi wiederholte ihre Frage.
    »Wie heißt du?«
    Doch offenbar hörte der Mann sie nicht.
    Dann hob er den Kopf, die Menge vor ihm hatte sich zerstreut, es blieben die mit einer rosa Patina überzogenen Hofmauern, Teppiche aus roten Geranien, eine kleine blaue Tür, durch die das Rauschen des Patronatsfests drang, das Taschentuch voll blinkender Münzen und ein Mädchen, das aus dem Meer gekommen zu sein schien und ihn etwas fragte.
    »Wie heißt du?«
    Der Fremde sagte einen Namen, den Mimi nicht verstand, aber sie wollte ihn nicht noch einmal hören: Durch seine Art zu sprechen hatte er die ganze Anmut verloren, von der sie so hingerissen gewesen war.
    »Trinkst du mit mir?«, fragte er, und sie konnte nicht widerstehen, noch immer trieb ihre Kühnheit sie an und ein Sehnen, dessen Ursprung sie sich nicht erklären konnte.
    Mimi sollte den Namen des Mannes nie erfahren.
    Sie gingen durch einen Garten und dann über einen Aschenplatz, Mimi fühlte, wie ihre Schuhe sich mit Erde füllten, und es gefiel ihr, auf dem roten Ziegellehm zu gehen, der nachts noch ein wenig von der lauen Wärme der

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