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Zementfasern - Roman

Zementfasern - Roman

Titel: Zementfasern - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Verlag Klaus Wagenbach <Berlin>
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mit ihm würde sie niemals allein sein, auch wenn er missraten war, ein zerstörter Mensch. Darum war er ein Mensch voller Wahrheit.

2000
Die Parmasia

Das Krankenhaus war mit Weihnachtsbeleuchtung geschmückt, die Statue seines Gründers stand im Dunkeln auf dem Platz vor der Schranke; die Dunkelheit ließ die Dinge älter erscheinen, hob leise Geräusche hervor, wie die der Schuhsohlen auf dem nassen Asphalt, das Rascheln von Stoffen, das Schlagen der Türen.
    Flackerndes Krankenhausneon erleuchtete den Flur, blendende Reflexe, die auf den Gesichtern der Besucher glänzten. Die Leute trugen Mäntel, als gäbe es keinen Unterschied zwischen drinnen und draußen, vor jedem Zimmer stand eine Gruppe von Menschen, alle flüsterten, manchmal brach jemand unversehens in Gelächter aus, dann kehrte jenes leise Murmeln zurück, wenn Sprechende die Stimme senken, um nicht zu stören.
    Zimmer 14, Abteilung Allgemeinmedizin. Die Besuchszeiten waren strenger als in der Hals-Nasen-Ohren-Abteilung, aber dort war kein Platz mehr für die am Pleura-Mesotheliom Erkrankten. Seit einiger Zeit wurden sie nach Hause geschickt, um sich dort behandeln zu lassen und zu warten. Es hieß »warten«, und jeder ahnte den finsteren Schatten einer zweiten, unheimlichen Bedeutung dieses Wortes.
    Antonio Orlando war im letzten Jahr gestorben und mit ihm Dutzende der männlichen Bewohner des gläsernen Hauses in Zürich. Das ergab eine Landkarte, die Mimi in den Schlupfwinkeln ihres Herzens aufbewahrte. Eine Landkarte mit den Namen der Familien, die während jener wenigen Monate mit ihr zusammengelebt hatten, und jede dieser Familien hatte den langsamen Todeskampf eines ihrer Männer erlebt. Von den Älteren hatte keiner überlebt. Mimi war zu einem guten Dutzend Beerdigungen gegangen, und jedes Mal hatte sie dasselbe blaue Kleid getragen, weil es ihr gut stand, und denselben Hut mit einem altmodischen Schleier, den sie sich in einer Mischung aus Koketterie und Bosheit genäht hatte, einer Mischung, die sie häufig überkam.
    Nach jeder Trauerfeier ging Mimi zu ihrer Mutter Rosanna. Sobald sie zusammen waren, stimmten sich beider Bewegungen in einer Symphonie aus genau festgelegten Gesten aufeinander ab: Aus den Lindenholztruhen mit Mimis unbenutzter Aussteuer holten sie Wäschestücke, lockerten ein Laken oder ein Tischtuch unter der Sonne und falteten es, ohne ein Wort zu wechseln, wieder zusammen, nachdem sie die Säume zu den entgegengesetzten Seiten des Hofes gezogen und den Stoff mit einem heftigen Ruck geglättet hatten. Schließlich hoben sie die gerundeten Arme, als umarmten sie einen großen Weidenkorb, und ein Beobachter hätte meinen können, die beiden Frauen führten zwischen Tüchern und Stickereien einen Tanz auf. Wenn sie das Wäschestück zusammengefaltet hatten, legten sie es zur
parmasia
. Dieses Wort bedeutete eigentlich, sich um die hungrigen Verwandten des Verstorbenen zu kümmern und für sie zu kochen, aber gemeint war auch der große Korb mit Pasta, Zucker, Öl, Quittenmarmelade und getrockneten Tomaten.
    Wer an der Ternitti gestorben war, bekam eine spezielle Behandlung, der Totenkorb durfte keine Milch enthalten. Davon hatten sie in ihrer Jugend schon zu viel getrunken, die »rüstigen« Arbeiter, die Asbest einatmeten und sich einbildeten, sie seien immun gegen die Brustkrankheit.
    Der Geist, mit dem man den Totenkorb einer
parmasia
füllt, gleicht der Haltung, die uns sehr früh abverlangt wird, wenn wir noch Kinder sind: Erregung, Angst und ein angeborenes Verantwortungsgefühl. Man füllt den Korb eher für die Toten als für die Lebenden, obwohl sie es sind, die die Gaben im Korb essen und benutzen werden. Und der Tod verwandelt sich in eine Reise, sei sie nun kurz oder lang, doch so angenehm wie möglich.

Die Besucher dürfen bis zehn nach zwölf bleiben, bis nach den Neujahrswünschen, dann müssen sie gehen. Die Krankenhausleitung hatte diese Ausnahme gewährt, weil es sich um einen besonderen Jahreswechsel handelte.
    Die Nacht zwischen dem 31. Dezember 1999 und dem 1. Januar 2000 verbrachte Mimi, geschmückt mit einem Lächeln, im Krankenhaus. Nicht verändert hatten sich, trotz der jüngsten Trauerfälle, ihre schwarzen Haare, die von feinen Falten gezeichneten Züge, nur die Vertiefung der Wangen war ausgeprägter, und nach einem Arbeitstag in der Krawattenfabrik wuchsen kleine helldunkle Schatten zwischen den Linien der Wangenknochen und den Augenhöhlen, so dass Kinn und Nase scharf hervortreten konnten.

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