Zementfasern - Roman
Im Licht des Sonnenuntergangs tauchten die kantigen Züge ihres Gesichts in eine verschwommene Wolke, die alle Schatten verfliegen ließ.
Domenica Orlando trug immer einen feinen Hauch Schminke unter den Augen, die schmalen nervösen Hände schienen nicht darin geübt, Baumwolle und Seide zu flechten, sondern sanft die Saiten einer Harfe anzuschlagen.
»In Australien war schon Mitternacht, und es ist nichts passiert!«
»Was redest du?«
»Nichts, absolut gar nichts!«
»Hast du gehört, dass sie den Strom abdrehen mussten, Mimi?«
»Es ist nichts, Vope, bleib ganz ruhig, ich hab den Spumante mitgebracht, den du magst, den süßen, der ist wie Sirup.«
Fünfundzwanzig Jahre nach den Nächten, die sie in zwei nebeneinander stehenden Betten verbracht hatten und Ippazio ihre schwarzen Haare streichelte, saßen Mimi und der Vope einander gegenüber. Er unter der Bettdecke in einem glänzenden grauen Schlafanzug mit versilberten Knöpfen, unpassend elegant, das Etikett hing noch am Halsausschnitt.
Mimi trug sehr enge Jeans und einen eingelaufenen Wollpullover, sie liebte leuchtende, grelle Farben, Flammen – »er ist grässlich, aber ich habe heute Abend kein anderes rotes Stück gefunden«. Sie war mit Vopes Frau und den Kindern Arianna und Federico gekommen, zusammen zählten sie die Sekunden bis zur Ankunft des neuen Jahrtausends.
»Neun… acht… sieben…«, das Knattern eines Knallfroschs, dann wurde der schwarze Himmel der Adria in den Fenstern der Krankenhausflure mit buntleuchtenden Blitzen bemalt.
»Sechs… fünf… vier… drei«, Mimi hielt eine Flasche Spumante und drückte mit der Hand gegen den Korken.
»Zwei, eins, frohes neues Jahr!« Der Korken flog in die Luft, gefolgt von einer weißen Schaumspur.
Die Fröhlichkeit war verhalten, an das Blei der Umstände gekettet. Mimi drückte Vopes Knie, das unter der Decke hervorkam, sie warf ihm ein Scherzwort im Dialekt zu, er lächelte. Er antwortete mit einer Geste, er wollte ihr etwas ins Ohr sagen, ohne dass die anderen ihn hörten. Mimi beugte sich zu ihm vor. Das eine oder andere Wort würde bis zu den anderen dringen, aber nicht der Kern. Und es war ein kostbarer Kern. Fast ein Geheimnis.
»Der Pati hat’s vorhergesehen, dass wir dort sterben.«
Mimi zuckte zusammen, als sie hörte, dass der Vope Ippazio bei diesem Namen nannte.
»Ich will nichts von Ippazio hören.«
»Hast du ihn nicht immer Pati genannt?«
»Jetzt nicht mehr.«
»Aber das muss ich dir erzählen.«
»Lassen wir die Gespenster in Ruhe.«
»Weil du es nicht gesehen hast. Du weißt es nicht.«
»Doch doch, ich weiß Bescheid.«
»Gar nichts weißt du. Hör zu, einmal hatten wir zusammen Nachtschicht, Pati und ich. Da sehen wir einen in den Zement fallen. Er hat geschrien, dass ich davon noch immer nachts aufwach. Den Kopf hat er einmal aus dem Dampf gesteckt, dann ist er verschwunden. Am nächsten Tag hat Pati seinen Arbeitsanzug verbrannt und ist nicht mehr gekommen. Und das hat ihn gerettet, glaub ich. Ich hab nicht den Mut gehabt aufzuhören und hab Milch getrunken. Weil sie uns sagten, wir müssten viel Milch trinken, um nicht krank zu werden. Da siehst du, was aus mir geworden ist, jetzt bin ich hier. Das Ende eines Idioten. Nur Idioten wussten es nicht, wollten es nicht wissen.«
Mimi fühlte sich unbehaglich, doch in tiefster Seele empfand sie Achtung für diesen Mann, der dem Tod stolz ins Auge blickte. Pati hatte ihn gesehen und war geflohen, der Vope hatte getan, als wenn nichts wäre, er hatte ihn akzeptiert wie ihr Vater Antonio Orlando, ohne Eitelkeit, ohne sich den Geist vernebeln zu lassen, ging er dem Tod mit derselben Selbstverständlichkeit entgegen wie eine Fußtruppe dem Angriff eines tausendmal größeren Heeres. Vopes Beichte verdiente ein Zugeständnis, diesmal aber von Mimi.
»Jede Nacht haben wir achtgegeben, dass du uns nicht hörst«, gestand sie mit einer Stimme, die ihr aus einer unendlich weiten, verschämten Ferne kam.
»Ich war dumm, war neidisch auf euer Glück. Aber das habe ich nie zugeben können.« Der Vope konnte nicht alles sagen, was in ihm aufwallte, wie er die beiden bei Mama Rosanna verpfiffen hatte, wie er Biagino Bier zu trinken gegeben hatte, tausend Jahre, bevor Biagio zu Celestino wurde. Er hätte mit Mimi gerne über die Jahre aus Glas geredet, über die Nächte, die er damit zugebracht hatte, auf ein hörbares Schlucken zu warten, immer in der Hoffnung, die beiden Verliebten würden mit ihm sprechen. Denn er
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