Zementfasern - Roman
wünschte sich eine Freundschaft. Mehr nicht. Und jetzt Federico und Arianna, in der Liebe zwischen ihren beiden Kindern lag eine Art Entschädigung.
Mimi rückte dicht an sein Ohr. Sie bot ihre ganze Freundlichkeit auf: »Lass uns vergessen, was uns wehgetan hat, und nur die Erinnerungen bewahren, bei denen wir lächeln können.« Für Mimi war das eine Übung der Seele. Die schönsten Teile der Erinnerungen festhalten, das Gute: wenn Mimi vor Jahren in der Nacht des heiligen Rochus in Torrepaduli bei dem Kuss mit dem geheimnisvollen Musikanten aufgehört hätte, dem Kuss auf dem Trittbrett eines Wohnwagens am Stadtrand; wenn sie und Ippazio vor Jahrhunderten nur das Gute ihrer Liebkosungen in seinem Bett bewahrt hätten; wenn sie sich aus Zürich das neue Leben mit Arianna mitgenommen hätte, statt die Spur aus Totenkörben, die sie füllen musste.
»Darum siehst du immer so glücklich aus.«
»Ich weiß nicht.«
»Sprichst du darum immer mit dir selbst?«
»Darüber hab ich nie nachgedacht.«
»Was erzählst du dir?«
»Das ist ein Geheimnis.«
»Kannst du es mir nicht jetzt sagen, wo ich Abschied nehmen muss?«
»Du musst nicht Abschied nehmen. Ich hab dich gern. Und Federico habe ich auch gern.« Nachdem sie das gesagt hatte, tunkte sie Watte in Wasser und strich damit über Vopes Lippen und über seine Augen, die sich mit einer gelblichen Asche gefüllt hatten.
»Federico ist nicht anspruchsvoll.«
»Arianna auch nicht. Sie hatte ein Dach, Liebe, Wärme und Sicherheit, sollte sie mal auf eine harte Probe gestellt werden, wird sie vernünftig reagieren.«
»Federico sehe ich, und kann doch nicht sagen, was aus ihm wird.«
»Er hat eine einzigartige mutige Mama und vorerst auch eine ebenso einzigartige Schwiegermutter, er sollte Arianna gut festhalten.«
»Es ist sein Leben.«
»Basta, es reicht, wir haben schon viel über unsre Kinder geredet.«
»Mimi, ich sterbe wie Don Tonino.«
»Also müssen wir dich jetzt auch noch heiligsprechen?«
Der Vope lächelte. Ein bitterer Halbmond, die Zähne blitzten im künstlichen Licht, und die Augen schlossen sich vor Müdigkeit.
Mimi dachte darüber nach, dass noch niemand ihr die Geschichte erzählt hatte, wie Ippazio die Fabrik verließ. Sie hatte davon gehört, dass Männer im Zement ertranken, doch niemand hatte ihr verraten, dass ihr Pati nach einer solchen Tragödie weggegangen war, von Pati hatte sie schon sehr lange nichts mehr gehört, schon seit jeher, schon Monate bevor Arianna kam.
Mit ihrem besonderen Lächeln verließ Mimi die anderen, um nach Hause, nach Lucugnano zurückzugehen.
Draußen war es schneekalt, Tricase wurde vom Tramontana gepeitscht, am Himmel stiegen die weißen Säulen des verdampfenden Schießpulvers auf, und am Horizont des Hafens spiegelten sich im gekräuselten Wasser der Adria brennende Girlanden wie die Sternschnuppen an Sankt Laurentius. Inmitten der triumphierenden Freude aus Raketen und Rauch war Mimi still.
Ihre Tochter Arianna sah sie zweimal im Jahr, an Weihnachten und im Sommer, denn Arianna studierte Medizin, und jedes Mal war sie fremder, schwerer zu verstehen.
Im Sommer letzten Jahres war sie mit kurzgeschorenen und orange gefärbten Haaren angekommen. Sie machte alle Prüfungen rechtzeitig und konnte die Miete für ein Zimmerchen hinter einer Falttür selbst bezahlen, weil sie in einer Pizzeria in Monte Mario arbeitete, einem Viertel mit niedrigen Häusern im Norden Roms.
»Wie findet Federico diesen neuen Haarschnitt?«
»Warum fragst du nicht, wie ich ihn finde?«
»Ich kann mir denken, wie du ihn findest, du hast dir diesen modernen Schnitt ja selbst ausgesucht.« Und bei den Worten »modernen Schnitt« bebte Mimis Stimme.
»Keine Ahnung was Federico denkt, und es ist mir auch ziemlich egal, weißt du, wie oft mich dein lieber Federico in den letzten drei Monaten besucht hat? Federico, der Liebling aller Schwiegermütter?«
»Zweimal?«
»Null.«
»Null?«
»Null.«
»Aber er arbeitet in der Bar seines Vaters. Warst du schon einmal bei seinem Vater?«
»Ich studiere ein Fach, bei dem es zehn Jahre dauert, bis ich ein Stück Papier kriege, das mir eine Stelle verschafft, und ich arbeite auch, genauso wie Federico, manchmal glaube ich, er liegt dir mehr am Herzen als deine Tochter.«
»Du liegst mir am Herzen, und dann liegt ihr beide zusammen mir am Herzen. Seit zehn Jahren schon.«
»Acht.«
»Also fast zehn.«
»Nein. Mama, du lebst das Wunschbild eines Lebens, das es nicht mehr
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