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Zementfasern - Roman

Zementfasern - Roman

Titel: Zementfasern - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Verlag Klaus Wagenbach <Berlin>
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und klein, riss die Fenster auf und drohte den Nachbarn mit einer kurz bevorstehenden, reinigenden Apokalypse.
    Wegen des Lärms waren sie alle herbeigeeilt.
    »Dieser Verrückte lässt einen nicht schlafen, Mimi, du bist zu nachsichtig mit deinem Bruder«, sagte ein alter Mann, dessen Hals eine Taschenlampe beleuchtete. Sein Ton war aggressiv, so wie die Augen, die vor Zorn glühten.
    Unterdessen rezitierte Celestino allen zum Trotz seinen Text, wohl wissend, dass die Leute da draußen nicht weniger böse waren als die Zenturionen, die Alten im Hohen Rat oder die Menge, die den Mörder Barabbas rettet und den Sohn Gottes verdammt.
    Celestino war zu dem Jesus des Kreuzwegs geworden, wie er sich immer erträumt hatte. Geächtet, verurteilt, gekreuzigt, derselbe Zustand wie an allen Tagen seines Lebens, von einer Bar zur anderen bis zur Auferstehung.
    Mimi steckte den Schlüssel ins Schloss, konnte ihn aber nicht herumdrehen.
    Biagino hatte sich verbarrikadiert.
    »Ruft die Feuerwehr aus Maglie«, forderten die Leute vor dem Haus. Sie wollten ihn ins Irrenhaus werfen, es nur für ihn wieder aufmachen, sie wollten schlafen. In Mimis Kopf vermischten sich die Stimmen zu einem einzigen Protestgeschrei, einer einzigen Drohung, die am Zustand ihres Bruders abprallte, damit sie Mimi treffen konnte. Sie empfand Erleichterung, als Federico mit seinem Vater, dem Vope, auftauchte. »Mein Junge geht Arianna morgen am Bahnhof abholen, Mimi«, sagte der Vope, der sofort im Schlafanzug und Mantel auf die Straße gegangen war, als er von Federico erfahren hatte, was geschehen war.
    Die kleine tröstliche Geste gab ihr Kraft.
    Sie legte ihr Gesicht an die Tür und fing an zu sprechen.
    »Biagino, ich bin’s, Mimi.«
    »Biagino ist nicht da.«
    »Mimi, deine Schwester.«
    »Ich bin Jesus.«
    »Biagino, ich bitte dich.«
    »Ja bete, wenn du betest, wirst du erlöst.«
    »Biagino, mach auf, sie reißen uns die Tür ein.«
    Und während sie das sagte, hörte sie etwas im Haus explodieren. Biagino verrückte die Möbel, kippte die Anrichte und die Tische um, erzeugte einen gewaltigen Lärm, der die herbeigeeilten Menschen verstummen ließ. Die Dunkelheit war undurchdringlich, fast konnte man die Atemzüge all jener hören, die auf eine baldige Wende warteten.
    »Biagino, ich bitte dich.«
    »Geh weg, schäm dich ausnahmsweise mal für dich, nicht für mich.«
    »Verzeih mir, Biagino, du bist der Mensch, den ich neben Arianna am meisten liebe. Mach auf, du bist der einzige Mensch, der mir geblieben ist.«
    Plötzlich erfüllte ein starker Gasgeruch die Luft.
    »Er hat den Gashahn aufgedreht!«, die meisten liefen sofort davon, der Carabiniere, ein junger Mann, untersetzt und olivbraun, mit dem Akzent von Bari, kam mit strenger Miene, aber auch einer Spur Mitleid auf Mimi zu. »Signora, wir müssen die Tür eintreten und ihn mitnehmen, damit die Leute sich wenigstens beruhigen.«
    »Bitte lassen Sie mich einen letzten Versuch machen. Wenn er mir öffnet, verhaftet ihr ihn nicht, ich bitte euch.«
    »Tut mir leid, wir müssen ihn mitnehmen.«
    Mimi drehte dem Mann in Uniform den Rücken zu und ging zur Tür. Sie hockte sich vor das Türschloss und begann, den Text, den die verzweifelte Situation ihr eingab, durch das Schlüsselloch zu hauchen. Die Freundlichkeit. Sie bot all ihre Kräfte für den letzten Tropfen Freundlichkeit dieses Abends auf. Und was ist Freundlichkeit, wenn nicht Anmut, eine Spur Liebe, Entschlossenheit und eine kleine Zwecklüge.
    »Signore, die Wachen des Gouverneurs sind gekommen, es ist so weit.«
    Der Carabiniere wurde stocksteif, wechselte einen überraschten Blick mit seinem Gefreiten.
    »Signore.«
    Aber das Schauspiel musste nicht fortgesetzt werden. Celestino hatte verstanden, er war erkannt worden. Er brauchte jemanden, der ihm zuhörte und seine Sehnsüchte begriff, auch wenn es um die verrückteste Sehnsucht der Welt ging.
    Wieder entstand eine unerwartete Stille, der Schlüssel wurde umgedreht, und die Tür öffnete sich, eine starke Gaswolke drang in die Nasenlöcher, aber Celestino stand dort auf der Schwelle. Mimi warf sich ihrem Bruder sofort an den Hals, eine Sekunde, bevor jemand ihm etwas antun konnte. Sie küsste ihn und trocknete ihm mit ihren Wangen den Schweiß, der in winzigen Perlen aus seinen Haaren rann, sie atmete ein wenig Schweiß durch die Nase ein und spürte im Mund den salzigen Geschmack von Tränen, und als sie ihren Bruder fest an sich drückte, wusste sie, dass sie nicht allein war,

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