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Zementfasern - Roman

Zementfasern - Roman

Titel: Zementfasern - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Verlag Klaus Wagenbach <Berlin>
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gibt.«
    »Ich kenne Arianna Orlando, und sie ist meine Tochter, auch mit scheußlichen Haaren.«
    »Erinnerst du dich, wessen Schwester du bist?«
    »Ich erinnere dich daran, dass er dein Onkel ist.«
    »Seine blaue Mähne hat mir mehr Schaden zugefügt als …« und hier brach Arianna mit verstörter Miene ab.
    »… mehr Schaden als wer, als was? Warum sprichst du nicht weiter? Du bist vierundzwanzig, vielleicht übernimmst du endlich einmal die Verantwortung für das, was du sagst.«
    »Du hast schon verstanden. Gute Nacht.«
    Mimi sah ihre Tochter in dem dunklen Zimmer verschwinden, sie bekam eine ebenso unbändige wie unaussprechliche Lust, sie zu schlagen. Aber sofort schämte sie sich dafür.

Mimis Geschichte bestand aus unpassenden Verknüpfungen, aus willkürlichen Ähnlichkeiten. Sie war eine Frau, die die Konventionen, die Sicherheiten ihrer engsten Freunde durcheinanderwirbelte. Die Welt ist voll von solchen Menschen, aber nur sehr wenige können dieses Auserwähltsein bewusst mit allen Konsequenzen leben.
    Mimi war in der Gegend aufgewachsen, die zum Kanal von Otranto abfällt: Salz, Steinkorallen, Seegrasbüschel und die Schatten der Feigenbäume auf der kurvigen Hauptstraße. Dann hatte man sie in einen durchsichtigen Würfel versetzt, tausend Kilometer entfernt, in Zürich, zwischen fremde Dialekte und Männer, die nach Krokydolith rochen. Sie hatte gesehen, wie die Gesichter aller Männer in ihrer Umgebung nach und nach die Farbe des Zements annahmen, mit dem sie arbeiten mussten. Sie hörte diese von der Zeit gebeugten Gestalten mit immer schrillerer Stimme sprechen, wie die Amseln, die auf den Hochspannungsleitungen singen, und sah, wie sie deren schmächtige Statur annahmen, sich in sich selbst zusammenkrümmten, bis sie genauso winzig und schwarz wurden.
    Im Geschichtsunterricht der Abendschule hatte sie eine Anekdote gehört. Sie erinnerte sich oft daran, die Geschichte war von einem dunklen Rahmen umgeben wie Traumbilder, es handelte sich um eine Erzählung aus der Konterrevolution in Paris.
    Wenn die Opfer der Reaktion auf das Schafott stiegen, umringte sie eine Menschenmenge, und immer gab es in dem wie eine Viehherde brüllenden Haufen eine einzelne Frau mit der Anmut und der Barmherzigkeit eines Engels. Diese Frauen waren leichtfertig oder mutig oder beides, denn sie fürchteten sich nicht davor, dem zum Tode Verurteilten einen Kuss anzubieten. Sie hatten keine Angst vor den Folgen. Hätte man sie entdeckt, in flagranti erwischt und angeklagt, wären sie vor einen Henker gezerrt worden. Es war nur ein inniger Kuss, bei dem der Nektar des Endes und des Anfangs getauscht wurden, als würden alle Gefühle der irdischen Welt und des Jenseits von hier ihren Ausgang nehmen.
    Für Mimi war dieser Kuss auf dem Schafott, der nur den Raum einer kleinen Fußnote während einer Geschichtsstunde gehabt hatte, der Schlüssel für die Beziehung zwischen zwei Liebenden.
    Der Kuss, das Verschmelzen von Säften, die vor Erregung trockenen Zungen, die einander zwischen den Spalten der Zähne, am Gaumen und schließlich bis tief in die Kehle hinein suchten, als wollten sie ersticken, das war sie.
    Der zum Tode verurteilte Mann und das anmutige Mädchen auf der wogenden Menge, das war sie.
    Diese Frau und dieser Mann waren der unvergleichliche Geschmack des ersten nächtlichen Kusses mit Pati. Ein Moment, der ihr ganzes Leben lang in einem kristallenen Schrein eingefasst war, einem ganz persönlichen, verborgenen Ort des Gedächtnisses.

Ippazio erfuhr von Vopes Erkrankung.
    Er selbst hatte viel früher mit der Ternitti Schluss gemacht. Insgeheim wusste er, dass er heil davongekommen war, es war nur ein flüchtiger Eindruck, aber er war sich sicher. Die Nachrichten vom Schicksal seiner Arbeitskameraden hatte er als eine Unabwendbarkeit aufgenommen.
    Herr Thaur lebte, aber es ging ihm nicht gut. Nach den ersten Schmerzen in der Brust hatte er angefangen, seine Stimme zu verlieren. Der wütende Schrei eines Mannes, der das primitive Deutsch der Italiener nachäffte, war zu einem spitzen Winseln geworden, langsam und kaum verständlich wurden die Worte abgespult, vor jedem Satz ertönte das Gurgeln einer Luftblase, die Stimmbänder waren verbraucht. Herr Thaur stotterte wie ein Kind, das gerade sprechen lernt. Ippazio traf ihn in einer Bar an der Limmat, eine von denen, die früher wie billige Tanzlokale ausgesehen hatten und nun zu
wine bars
mutiert waren, wo schmiedeeiserne Tischchen auf den Holzgerüsten

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