Zementfasern - Roman
Gründe für Ippazios Anwesenheit nicht kennen, aber nachdem sie eine Nacht darüber geschlafen hatte, traf sie ihre Entscheidung: ihn suchen und ihm eine Frage stellen, die für sie seit vielen Jahren unbeantwortet war.
Sie erreichte die Küste über die Schnellstraße, die die steilen Felsen zwischen dem Hafen und Funnuvoiere in zwei Teile spaltete. Mit eingeschalteten Warnblinkern parkte sie mitten auf der Straße, so dass sie einen großen Teil der Fahrbahn besetzte, wie eines der Autos der fahrenden Händler, die sich an den Tagen von Mariä Himmelfahrt hier in Stellung brachten.
Arianna stand auf der Veranda des Häuschens am Meer. Der Freund schlief, versunken in einem Liegestuhl, eine Zeitung über dem Gesicht. Man sah seine langen behaarten Beine, die schwieligen Füße, die gelb angelaufenen und von jeglicher Pflege weit entfernten Fußnägel. Entsetzen packte Mimi bei dem Gedanken, dass dieser Mann der Geliebte ihrer Tochter war. Sie vertrieb den Gedanken wie einen bösen Traum, einen Schauder, sie spürte, dass ein Sinn für die Ästhetik der Dinge in ihr zerbrach. Auch als Arianna mit geschorenem Kopf angekommen war, hatte sie den Bruch mit einer inneren Ordnung, mit den Regeln der Schönheit verspürt. Schönheit liegt im Verhalten, die Anmut im Umgang mit Mängeln.
Dann dachte sie bei sich, dass keiner ihrer Männer es je zu einem derartigen Verfall hatte kommen lassen, kein Mann in ihrem Leben hatte sich erlaubt, von der tadellosen Kontrolle aller Verhaltensweisen bis zur größten Nachlässigkeit zu verwahrlosen. Wenn Männer nicht auf der Höhe ihrer Fähigkeiten waren, trennte sich Mimi von ihnen. Gerade noch rechtzeitig, bevor sie sabbernd und schnarchend mit einer Zeitung über dem Gesicht in einem Liegestuhl versanken.
Unter der weißen Sonne des frühen Nachmittags erschienen Mimi und Arianna vollkommen identisch, zwei beseelte Wesen, die nur durch ihre Nähe unterscheidbar wurden, die dunklere Hautfarbe der Tochter gegen Mimis hellere, doch sah man die Biegungen ihrer Wirbelsäulen, ihre parallel verlaufenden Gesichtsachsen, ihre entschlossenen Bewegungen, ihre befreiten, großflächigen Stirnen, die zu einem Pferdeschwanz gebundenen Haare, stammten sie von demselben Planeten.
»Ich will Pati sehen«, sagte Mimi und betonte die Silben des Namens, als wäre ihre Tochter eine Freundin oder eine Fremde.
»Warum?«
»Ich will hören, wie er mir ins Gesicht sagt, dass er sich ein anderes Leben aufgebaut hat, ich will ihn sagen hören, dass er nicht den Mut hatte, dich großzuziehen.« Mimi war fünfzehn Jahre alt, ihr fehlte die Durchsetzungskraft, Fragen zu stellen, bis sie erschöpfend beantwortet waren.
»Ich habe Angst.«
»Wovor?«
»Dass alle unsere Gespenster zurückkommen, die aus der Zeit, als ich ein kleines Mädchen war; ich habe keine angenehmen Erinnerungen an meine Kindheit, ich war einsam.«
»Einsame Kinder entwickelten magische Kräfte, Arianna.«
»Mama, deine Verschrobenheiten haben mir immer Angst gemacht.«
»Ja, Angst, du hast Angst vor Gespenstern, vor Verschrobenheit, Arianna, aber vielleicht ist es besser, ein paar Ängste mehr zu haben, dafür aber auch unseren Herzen ein paar Antworten geben zu können.«
»Gut, dann bring uns diese Antwort, aber wenn sie zu böse ist, lass mein Leben damit in Ruhe.«
»Natürlich, ich verspreche es dir. Sag einen Wunsch.«
Arianna dachte nach, eine lange Kette aus Augenblicken in einer erwartungsvollen Stille, dann, mit plötzlich leuchtenden Augen:
»Nimmst du mich mit zur Santa Domenica? Deiner Heiligen?«
Fünfzehn Jahre waren seit der Nacht des heiligen Rochus in Torrepaduli vergangen, verändert waren die Verhältnisse, die Körper, der Blick, die kurzfristigen und langfristigen Pläne. Auf einer Bahn gibt es jedoch auch immer etwas Unwandelbares.
Mimi fühlte sich wie in einer Zeitmaschine, einem komplizierten Gerät, in dem ganze Teile der Vergangenheit bereist und beobachtet werden konnten, sogar einen Augenblick lang mit demselben Geist wiedererlebt wie in der Zeit, in der sie geschehen waren. Daran dachte sie, während sie mit Arianna, Biagino und Marcello, dem neuen Freund ihrer Tochter, im Auto auf dem Weg zu der Heiligen war. Der Mann fuhr die Familie Orlando, die Überlebenden von Zürich, nach Scorrano. Ariannas Wunsch ging in Erfüllung: beim Patronatsfest der heiligen Domenica dabei sein, ein Wunsch, der Mimi überrascht hatte, sie aber glücklich machte.
Keiner von den vieren konnte wissen, wie sehr
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