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Zementfasern - Roman

Zementfasern - Roman

Titel: Zementfasern - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Verlag Klaus Wagenbach <Berlin>
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brachte den ganzen Abend über nur wenige Worte stotternd heraus, er versuchte sich bewusst zu machen, dass Arianna diesen grauen Ingenieur erwählt hatte, der nicht schwimmen konnte. Ihr Pech. Ihr Pech, sagte er sich mehrmals. Sie wird immer ohne ihren Mann ins Wasser gehen müssen. Allein im Meer.

Die Luft war zum Ersticken, aus dem Ventilator kam bloß ein Hauch wie tropischer Schirokko. Hinter dem Tisch lag die Brüstung aus Stein und draußen eine
pajara
, die Arianna mit Geschichten aus der Kindheit füllte: »Dort drinnen haben wir als Kinder gespielt, dort habe ich zum ersten Mal geküsst«, und alle riefen: »Wen, wen?« Dieses mehrmalige
wen?
wurde in unterschiedlichem Tonfall ausgesprochen, mürrisch und verärgert bei ihrem neuen Gefährten. Verzweifelt bei Federico und Paolo. Aber sie antwortete nicht. Der Abend flog im Malvasier von Salice und im Gebäck aus Sant’Oronzo dahin. Der Mond kam heraus, und der Nebel mit seiner Feuchtigkeit stieg in die Höhe. Die Abendluft war klar geworden. Dank des grellen Mondlichts sah das Meer hinter der
pajara
und den Olivenbäumen sich endlich wahrgenommen. Arianna plauderte, und dort unten brüllte die Adria.
    Es gibt ein Detail in dem Abend in Marina Serra, das in diesem Bericht ausgelassen wurde. Eine Nachricht, die Arianna vorgab nicht zu hören, die sie von sich abschüttelte wie die Blicke von Federico und Paolo, die den ganzen Abend lang auf ihr geruht hatten.
    Der Wein war in die Eingeweide gesunken, war durch die Adern geflossen und hatte das Herz erwärmt, es auf alle Arten von Geheimnissen vorbereitet. Da war Paolo plötzlich mit einer vertraulichen Mitteilung herausgeplatzt: »Ich glaube, Ippazio ist im Ort.« Dann aber hatte er das Eis gesehen, das sich über die Tafel legte, ein Schauder, der auch ihn schüttelte bis zur Übelkeit, und hatte die Hand schnell zurückgezogen.
    Als Arianna mit Marcello allein zurückblieb, sah sie sich mit Fragen überschüttet.
    »Warum erkundigst du dich nicht nach ihm?«
    »Ich will nichts wissen von diesem Mann.«
    »Aber er ist dein Vater. Ich verstehe das nicht.«
    »Geh du ihn doch kennenlernen.«
    Ihre Antwort war schroff. Wer weiß, ob ihre Mutter es schon erfahren hatte. Eine drückende Stille entstand, sie dauerte wohl nur wenige Sekunden. Aber sie erschien sehr viel länger.
    »Bringst du mich morgen früh zu Mama?«

Nur in der Kindheit bildet man, wenn man einsam aufwächst, bestimmte Fähigkeiten aus. Mimi hatte ihre Fähigkeiten als kleines Mädchen entwickelt, wenn sie sich ganze Nachmittage lang darin übte, mit der Natur zu sprechen und sich eine unermesslich große, wohlwollende Welt vorzustellen, zu der sie gehörte, ein in die natürliche Ordnung der Dinge passendes kleines Teilstück. Sie übte, wenn sie unter ein Bett kroch und versuchte, den Vorfahren zuzuhören.
    Mimi wusste es noch nicht, aber sie fühlte bereits, dass Ippazio, ihr Pati, wenige Meter von ihr entfernt war.
    Als sie an diesem Morgen Arianna erblickte, in einen ockergelben Pareo gehüllt, offenbar war sie mit dem erstbesten Kleidungsstück, das sie aufgelesen hatte, aus dem Haus gegangen, und das Gesicht mit einem vorwurfsvollen Ausdruck bleiern verschattet, begriff sie, dass ihre Tochter der Bote einer Nachricht war, auf die sie schon immer gewartet hatte.
    »Was tun wir jetzt?«
    »Dein Vater wird niemals den Mut aufbringen, sich bei uns zu melden.«
    »Warum ist er dann hergekommen, um hier zu leben?«
    »Ich fürchte, dieses Mal weiß ich es.«
    Mimi stellte sich vor, dass der Asbest ihn auffraß wie alle seine alten Kollegen und dass er beschlossen hatte, nach Hause zurückzukehren, um in seiner Heimat zu sterben, weil seine Geister ihn riefen, dieselben, denen Mimi zuhörte, wenn sie unter einem Tisch hockenblieb.
    Doch auch wenn sie es dachte, Arianna konnte sie es nicht erzählen, sie konnte es niemandem erzählen.
    Die beiden verabschiedeten sich mit einer Umarmung wie früher, wenn Arianna für die langen Wintermonate nach Rom zurückfuhr. Sie sahen einander in die Augen und suchten ihr zaubermächtiges Einverständnis, ihre ineinander verwickelten Lebensgeflechte.
    »Wir schlafen drüber, die Nacht wird uns helfen.« Der Schlaf also, aber auch ein Traum, eine Vorwarnung.
    Pati war aus geheimnisvollen Gründen in Tricase. Ein Verstorbener in der Verwandtschaft, eine zu verteilende Erbschaft, alte Familienmitglieder, die er wiedersehen musste, eine Hochzeit, oder das, was Mimi fürchtete, die Asbestose. Sie konnte die

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