Zementfasern - Roman
begann die Liebe mit diesem Händedruck, der seine Bahn durch die Kindheit, die Jugend und jede Art von Veränderung zog.
Wenn sie sich von jemandem an der Hand berühren ließ, war dies das Zeichen einer viel weiter reichenden Anerkennung. Dem Gefangenen Vope, von Asbestfasern zum Tod verurteilt, dem schmächtigen Paolo, der den kleinen Dingen des Lebens ein anderes Gewicht beimaß, der Tochter Arianna, die sich vor ihren Augen veränderte wie die Linie des Horizonts, hatte Mimi diese besondere Gunst gewährt.
Der Vope wusste es nicht, Paolo wusste es nicht, Arianna wusste es nicht. Auch Ippazio wusste es nicht, aber er hatte es gespürt, und darum war er geliebt worden wie niemand sonst.
Eines Abends nahm Mimi Biagio an die Hand. Als wäre er noch das Kind, das sie an die Hand nahm, als die beiden in Zürich lebten. Wieder einmal war der Anruf gekommen, der das Auffinden eines betrunkenen Mannes in verwirrtem Zustand meldete. Er sei am Pizzo Cannone. Wie er dort hingekommen war, wusste keiner. Jemand hatte ihn aufgelesen, als er durch die Straßen am Stadtrand von Tricase wankte, und hatte ihn mitgenommen, ans Meer, in die Nähe der Bars, die im Sommer nach Pasteten duften und Tanzmusik verbreiten. Eine Infusion folgte auf die andere, plötzlich hatte Biagio sich brüllend mitten zwischen den Autos wiedergefunden, die langsam an der Küste entlangfuhren. Mimi sah ihn umringt von einer kleinen Menschenmenge. Sie verhörten ihn, sie fragten ihn, wie er hieß. Über Resten eines geborstenen Mäuerchens zusammengebrochen, hielt er sich den Kopf mit einer Hand: »Biagino … aber nennt mich Celeste.«
Eine Sternschnuppe, der Speichelfaden von den Lippen glänzte, bis er seine Bahn über dem Boden beendete, jedoch ohne einen genauen Landepunkt. Eine tiefe Stille entstand, sogar die Musik aus den Bars schien einen Augenblick lang zu verstummen. Mimi ergriff Biagios Hand, er blickte sich um, sie wischte ihm die Spucke mit einem Taschentuch weg, dann zog sie ihn zum Auto, vor dem Innenraum ging sie in die Knie, schob ihn hinein, indem sie mit beiden Händen dem rechten Bein nachhalf, schloss die Tür und lächelte die Männer und Frauen an, die sie umringten, als hätte sie einen Fehler wiedergutgemacht: Sie hatte den wehrlosen Mann, den nichtsnutzigen Bruder, wieder an seinen Platz gestellt, zwischen die kleinen männlichen Figuren, aus denen sich die Landschaft rings um die Kirche San Vito zusammensetzt, ein Bild, so gestochen scharf wie die Ansichtskarten mit der Aufschrift »Grüße und Küsse«.
Arianna hatte sich für den Abend die Haare golden gefärbt. Während die Sonne unterging, hatte sie sich vor einem Spiegel mit hölzernem Rahmen schön gemacht. »Blondierte Strähnen, die werden lange halten«, hatte ihr die Friseurin versprochen, eine pausbäckige Frau, übersät mit Leberflecken und einem Muttermal auf der Stirn. Arianna hatte mit ihrem neuen Freund eine kleine
pajara
unweit der Serra gemietet, einer Bucht zwischen zwei mächtigen Klippenvorsprüngen aus Granit und mediterraner Vegetation.
Mimi taufte den Abend, der Arianna bevorstand, auf den Namen »Der Abend der ersten Liebe«. Wegen der hohen Konzentration anwesender Liebhaber, die verpasst oder verlassen wurden.
»Warum bringst du dich bloß in so ein Schlamassel?«
»Federico wollte mich sehen, er wollte den modernen Mann spielen und meinen neuen Freund kennenlernen.«
»Soll das eine Beruhigungspille für ihn sein oder will er ihn ärgern?«
»Meiner Meinung nach will er bloß irgendwo in seinem Inneren bestätigt finden, dass er besser ist als der andere, und daraus Trost ziehen. Er hat noch immer nicht aufgegeben. Jeder Mann glaubt, dass er der Beste ist: ›Was, mit dem Typen bist du zusammen?‹«
Ariannas Nachgiebigkeit gegenüber Federicos Vorschlag machte Mimi misstrauisch.
»Ich glaube nicht, dass du dich erbittert gewehrt hast gegen die Idee dieses Abendessens mit Paolo, Federico und Marcello.«
»Marcello ist ein erwachsener Mann, er ist fünfunddreißig und Ingenieur.«
»Marcello weiß von Federico, von Paolo weiß er nichts.«
»Was muss er denn wissen?«
»Nun ja, Paolo war verliebt in dich.«
»Verliebt!? Was für ein großes Wort.«
»Er hat es mir gestanden, als wir einmal das Wahrheitsspiel gespielt haben.«
»Mama, bist du für gewisse Dinge nicht schon zu alt?«
»Ja.«
»Auf jeden Fall war das damals Kinderkram. Ich mochte Paolo auch, aber er war zu … wie soll ich sagen, zu …«
»Ein bisschen unbeholfen.
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