Zerbrechlich - Zerbrechlich - Handle with Care
ins Badezimmer, aber du brauchtest mehr Zeit. Alles tatest du mit äußerster Vorsicht: aus dem Bett steigen und zu deiner Gehhilfe gehen, mit der Gehhilfe ins Badezimmer schlurfen und vom Bad wieder zurück ins Schlafzimmer, um dich anzuziehen. Gerade der Morgen war schmerzhaft für dich, wenn du auf einem Bruch geschlafen hattest. Dreißig Minuten vor unserer Ankunft hatte Charlotte dir ein Schmerzmittel gegeben und wirken lassen, solange du noch ein wenig schlummertest. Charlotte suchte eine Sweatshirtjacke für dich heraus, sodass du den Arm nicht über den Kopf heben musstest, denn dein letzter Gips war erst vor einer Woche abgenommen worden und dein Arm noch steif. »Abgesehen von deinem Arm, was tut dir heute sonst noch weh?«, fragte Charlotte.
Du sahst aus, als würdest du im Kopf Inventur machen. »Meine Hüfte«, hast du geantwortet.
»Wie gestern oder schlimmer?«
»Wie gestern.«
»Möchtest du gehen?«, fragte Charlotte, doch du hast den Kopf geschüttelt.
»Mit der Gehhilfe tut mir der Arm weh.«
»Dann werde ich den Rollstuhl holen.«
»Nein! Ich möchte nicht in den Rollstuhl …«
»Willow, du hast keine Wahl. Ich werde dich nicht den ganzen Tag herumtragen.«
»Aber ich hasse den Rollstuhl …«
»Dann musst du eben hart arbeiten, damit du schnell wieder rauskommst, in Ordnung?«
Charlotte erklärte vor der Kamera, du seist vom Regen in die Traufe gekommen. Der Arm, eine alte Verletzung, verheilte noch, aber die Hüftschmerzen waren neu. Um die Gehhilfe benutzen zu können, musstest du Druck auf deinen Arm ausüben, was du nur für kurze Zeit aushalten konntest, sodass der alte, verhasste Rollstuhl deine einzige Alternative war. Seit deinem zweiten Lebensjahr hatte man dir keinen neuen Rollstuhl mehr angepasst. Mit sechs warst du fast doppelt so groß, und wenn du einen ganzen Tag im Stuhl verbringen musstest, klagtest du ständig über Rücken- und Muskelschmerzen. Doch die Versicherung wollte dir erst mit sieben einen neuen Rollstuhl bezahlen.
Ich hatte ein großes Morgenchaos erwartet, vor allem angesichts deiner schier unzähligen Bedürfnisse. Charlotte ging jedoch ausgesprochen methodisch vor: Sie ließ Amelia ihre verlorenen Hausaufgaben suchen, während sie dir das Haar bürstete und zwei Zöpfe flocht; dann lud sie dich mit der Gehhilfe, dem dreißig Pfund schweren Rollstuhl, einem Klapptisch und den Stützgestellen für deine Beine, die bei der Physiotherapie benötigt wurden, in den Wagen. Mit dem Bus konntest du nicht fahren – Schlaglöcher hätten zu Mikrofrakturen geführt. Stattdessen fuhr Charlotte dich und setzte Amelia unterwegs an der Junior High ab.
Ich folgte euch in meinem eigenen Van. »Weshalb eigentlich der ganze Aufstand?«, fragte der Kameramann, als wir allein im Wagen waren. »Sie ist klein und behindert, na und?«
»Und sie kann sich schon einen Knochen brechen, wenn Sie nur auf die Bremse treten«, sagte ich. In gewisser Hinsicht hatte der Kameramann recht. Wenn die Geschworenen nur zu sehen bekämen, wie Charlotte dir die Schuhe zuband und dich in den Kindersitz setzte, würden sie denken, dass du ein recht normales Leben führtest. Wir brauchten etwas Dramatischeres … einen Sturz oder besser noch: einen Bruch.
Mein Gott, was war ich nur für ein Mensch, dass ich mir wünschte, eine Sechsjährige würde sich etwas brechen?
An der Schule angekommen, wuchtete Charlotte dein Equipment aus dem Van und brachte es in eine Ecke des Klassenzimmers. Kurz besprach Charlotte mit deiner Lehrerin und deiner Betreuerin, welche Verletzungen dich heute plagten. In der Zwischenzeit saßest du an der Garderobe in deinem Rollstuhl. Ringsherum hängten die anderen Kinder ihre Jacken auf und zogen sich die Stiefel aus. Dein Schnürsenkel war aufgegangen, und du konntest zwar eine Schleife binden, aber nicht mit deinen zu kurz geratenen Armen bis an die Füße greifen. Ein kleines Mädchen bückte sich, um dir zu helfen. »Ich habe gerade gelernt, wie man sie zubindet«, erklärte sie stolz. Als sie davonhüpfte, hast du ihr hinterhergeschaut. »Ich weiß auch, wie das geht«, hast du in gereiztem Ton gesagt.
Als es Zeit für eine Zwischenmahlzeit war, musste deine Betreuerin dich aus dem Rollstuhl an das Waschbecken heben, damit du dir die Hände waschen konntest, weil du anders nicht heranreichtest. Fünf Kinder stritten sich darum, neben dir sitzen zu dürfen; dabei hattest du kaum Zeit zum Essen, weil die Physiotherapie anstand. Am heutigen Tag würden wir
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