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Zerbrechlich - Zerbrechlich - Handle with Care

Zerbrechlich - Zerbrechlich - Handle with Care

Titel: Zerbrechlich - Zerbrechlich - Handle with Care Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jodi Picoult
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Ohren gesteckt und die Lautstärke hochgedreht.
    Das tat ich nicht aus dem Grund, den du vielleicht immer vermutet hast, also nicht, um deine Geräusche auszublenden. Ich wusste, dass meine Eltern dachten, ich hätte kein Mitgefühl, wollte es ihnen aber auch nicht erklären; die Wahrheit war die: Ich brauchte die Musik. Ich musste mich davon ablenken, dass ich schlicht und ergreifend nichts tun konnte, wenn du so geweint hast, und dafür hasste ich mich nur umso mehr.
    Alle – selbst du mit deinem Spreizgips und dem Arm in der Schlinge – saßen bereits am Esstisch, als ich unten ankam. Mom hatte den Hackbraten in kleine Quadrate geschnitten. Das erinnerte mich an die Zeit, als du noch klein warst und auf deinem Hochstuhl gesessen hast. Damals habe ich viel mit dir gespielt, dir einen Ball zugeworfen oder dich in einem Wägelchen hinter mir hergezogen, und jedes Mal bekam ich das Gleiche zu hören: Pass auf.
    Einmal hast du auf dem Bett gesessen; ich bin darauf herumgesprungen, und du bist heruntergefallen. In der einen Minute waren wir noch Astronauten bei der Erkundung des Planeten Zurgon, und in der nächsten war dein Schienbein um neunzig Grad abgeknickt, und du hast komisch die Augen verdreht und bist umgefallen – wie immer, wenn du dich schwer verletzt hast. Mom und Dad haben mir immer wieder und wieder versichert, es sei nicht meine Schuld gewesen; aber wem wollten sie da etwas vormachen? Ich war schließlich diejenige, die gehüpft war; egal, ob das nun deine Idee gewesen war oder nicht. Wäre ich nicht dort gewesen, hättest du dich nicht verletzt.
    Ich setzte mich auf meinen Platz. Wir hatten keine festgelegte Sitzordnung wie einige andere Familien; trotzdem setzten wir uns aus Gewohnheit immer auf den gleichen Stuhl. Ich trug noch meine Kopfhörer und hatte die Musik aufgedreht – Emozeugs, Songs, die mir das Gefühl gaben, dass es ein paar anderen Menschen noch mieser ging als mir. »Amelia«, sagte mein Vater, »nicht am Tisch.«
    Manchmal glaube ich, in mir wohnt eine Bestie, in der Höhle, wo eigentlich mein Herz sein sollte, und dann und wann kommt sie raus und breitet sich in mir aus, sodass ich nicht anders kann, als etwas Unangemessenes zu tun. Ihr Atem ist voller Lüge und riecht nach Gehässigkeit. Und just in diesem Augenblick beschloss die Bestie, ihr hässliches Haupt zu erheben. Ich blinzelte meinen Vater an, drehte die Lautstärke noch weiter auf und sagte viel zu laut: »Gib mir mal die Kartoffeln.«
    Ich klang wie die dämlichste Göre auf dieser Erde, und vielleicht wollte ich das auch sein, wie Pinocchio. Wenn ich mich nur lange genug wie ein selbstsüchtiger Teenager benähme, würde ich auch einer werden, und dann würden alle mich wahrnehmen und mich bedienen, anstatt dich mit Hackbraten zu füttern und aufzupassen, dass du nicht vom Stuhl rutschst. Tatsächlich hätte ich mich schon damit zufriedengegeben, wenn irgendjemand bemerkt hätte, dass auch ich ein Mitglied dieser Familie war.
    »Willow«, sagte meine Mutter, »du musst etwas essen.«
    »Das schmeckt wie eingeschlafene Füße«, hast du erwidert.
    »Amelia, ich sage es dir nicht noch mal«, warnte Dad.
    »Noch fünf Bissen …«
    »Amelia!«
    Sie würdigten sich keines Blickes. Soweit ich wusste, hatten sie, seit Dad nach Hause gekommen war, nicht mehr miteinander gesprochen. Im Augenblick hätten sie genauso gut auf verschiedenen Seiten der Erde sein können; den Unterschied hätte man nicht gemerkt.
    Du bist vor der Gabel zurückgewichen, mit der Mom vor deinem Gesicht herumwedelte. »Hör auf, mich wie ein Baby zu behandeln«, hast du dich beschwert. »Nur weil ich mir die Schulter gebrochen habe, müsst ihr nicht so tun, als wäre ich erst zwei!« Um deinen Worten Nachdruck zu verleihen, hast du mit der freien Hand nach deinem Glas gegriffen, es aber umgestoßen. Die Milch darin landete teils auf dem Tischtuch, zum größten Teil jedoch auf Dads Teller. »Gottverdammt!«, brüllte er, langte zu mir rüber und riss mir die Kopfhörer aus den Ohren. »Du bist Teil dieser Familie, und du wirst dich am Tisch auch so benehmen.«
    Ich starrte ihn an. »Du zuerst«, erwiderte ich.
    Sein Gesicht lief knallrot an. »Amelia, geh in dein Zimmer.«
    » Fein! « Ich stieß den Stuhl zurück und rannte nach oben. Schluchzend sperrte ich mich im Badezimmer ein. Ich kannte das Mädchen im Spiegel nicht. Ihr Mund war verzerrt, die Augen waren dunkel und leer.
    In jener Zeit sah es so aus, als würde mich einfach alles

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