Zerbrechlich - Zerbrechlich - Handle with Care
roch. Du wolltest blinzelnd den Arm heben, um deine Augen zu beschirmen; dann fiel dir ein, dass er fest an deinen Oberkörper gebunden war. »Dieses Mädchen, Mommy«, hast du gesagt, »warum hat sie so ausgesehen?«
»Weil sie krank ist, und wenn sie ihre Medizin bekommt, fallen ihr die Haare aus.«
Du hast kurz darüber nachgedacht und gesagt: »Ich habe ja so ein Glück. Bei meiner Medizin behalte ich wenigstens die Haare.«
Normalerweise vermied ich es, in deiner Gegenwart zu weinen; doch nun konnte ich nicht anders. Da saßt du mit drei gebrochenen Gliedern und mit einem verheilenden Knochenbruch, von dem ich noch nicht einmal etwas gewusst hatte, und mit … Stopp! »Ja, wir haben Glück«, sagte ich.
Du hast mir die Hand an die Wange gelegt und gesagt: »Ist schon okay, Mommy«, und hast mir den Rücken gerieben, genau wie ich dir in der Notaufnahme.
Sean
»Bleib stehen, verdammt noch mal!«, brüllte ich, während ich mit der Sprühdose in der Hand durch den leeren Park rannte. Der Teenie hatte noch immer einen Vorsprung, ganz zu schweigen von dem Vorteil, dass er dreißig Jahre jünger war als ich. Trotzdem würde ich ihn nicht entkommen lassen, und wenn ich dabei draufginge – was angesichts des Stechens in meiner Seite durchaus im Bereich des Möglichen lag.
Es war einer jener ungewöhnlich warmen Frühlingstage, die mich immer an meine Kindheit erinnerten und an die Mädchen im Freibad, die mit klatschenden Schlappen an mir vorbeigegangen waren. Ich muss zugeben, auch an diesem Tag hatte ich die Mittagspause zu einem kurzen Sprung ins kalte Nass genutzt. Wir würden eine ganze Weile nicht schwimmen gehen – aus Rücksicht auf dich, da du mit deinem Spreizgips nicht ins Becken durftest. Dabei hast du nichts lieber getan als schwimmen, obwohl du es aufgrund deiner zahlreichen Knochenbrüche nie richtig gelernt hast. Auch nachdem Charlotte Fiberglasverbände entdeckt hatte, die wasserdicht und unglaublich teuer sind, hast du den Schwimmunterricht jedes Mal aus den unterschiedlichsten Gründen verpasst. Als Amelia ihre schlimmste Pubertätsphase durchlief, hat sie es dir immer wieder unter die Nase gerieben, wenn sie zu einer Poolparty oder an den Strand ging. Dann hast du den ganzen Tag geschmollt oder bist – in einem ganz besonders erinnerungswürdigen Fall – ins Internet gegangen und hast auf einen überdachten Pool geboten, für den wir weder den Platz noch das Geld gehabt hätten. Manchmal glaubte ich schon, du seist vom Wasser besessen, egal, ob es zu Eis gefroren oder voller Chlor war. Du wolltest all das, was du nicht haben konntest.
Genau wie wir anderen auch, nehme ich an.
Mein Haar war also noch feucht vom Schwimmen; ich roch nach Chlor und überlegte, wie ich das vor dir verbergen könnte, wenn ich nach Hause kam. Ich kurbelte die Wagenfenster herunter, als ich am Park vorbeifuhr, wo gerade ein Spiel der Little League stattgefunden hatte. Dabei bemerkte ich einen Teenager, der am helllichten Tag Graffiti an eine Mauer sprühte.
Ich weiß nicht, was mich mehr frustrierte: die Tatsache, dass der Junge öffentliches Eigentum verschandelte oder dass er es genau vor meiner Nase tat und sich noch nicht einmal Mühe gab, sich zu verstecken. Ich parkte ein Stück weit entfernt und schlich mich hinter ihn. »Hey!«, rief ich. »Kannst du mir sagen, was du da machst?«
Auf frischer Tat ertappt, fuhr der Junge erschrocken herum. Er war groß und spindeldürr, hatte strähniges blondes Haar und einen armseligen Flaum von einem Schnurrbart. Er schaute mir in die Augen. Sein Blick war klar und trotzig. Dann ließ er die Sprühdose fallen und lief los.
Ich setzte mich ebenfalls in Bewegung. Der Junge sprintete aus dem Park und unter einer Fußgängerbrücke durch, wo er mit seinen Turnschuhen in einer Matschpfütze ausrutschte. Er rang ums Gleichgewicht, und dadurch holte ich ihn ein und konnte mich mit meinem ganzen Gewicht gegen ihn werfen und ihn an die Betonwand drücken, mit dem Arm an seiner Kehle. »Ich habe dich etwas gefragt«, knurrte ich. »Was zum Teufel hast du da gemacht?«
Er zerrte an meinem Arm, würgte, und plötzlich sah ich mich mit seinen Augen.
Ich gehörte nicht zu jener Art von Cop, die ihre Stellung ausnutzten, um andere einzuschüchtern. Warum war ich also so schnell grob geworden? Als ich einen Schritt zurücktrat, wusste ich, warum: nicht, weil der Junge öffentliches Eigentum besprüht hatte, und auch nicht, weil er bei meinem Erscheinen keinerlei Reue
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