Zero Day
Den Gegner. Was die Ausbildung einem nicht vermittelt, ist, dass alles wirklich Wichtige – die Umstände, die eigentlich über Leben und Tod entscheiden – meist außerhalb jeder Einflussmöglichkeit bleibt.
Er streichelte der Katze den Bauch, stand auf und verließ das Motel. Draußen öffnete er den Kofferraum, entnahm ihm Absperrband und spannte es, nachdem er die Haustür abgeschlossen hatte, vor den Eingang. Das gelbe Band war von Weitem sichtbar, seine Aussage klar:
Zutritt verboten.
Als Nächstes beobachtete er die Tür seines Zimmers. Sein besonderes Augenmerk galt dem Bereich vor der Tür. Er hielt Ausschau nach etwaigen Drähten und eventuell ausgetauschtem Holz, erkannte jedoch nichts in der Art. Aus einem der Blumenbeete, die den Parkplatz säumten, suchte er sich einen handlichen Stein und schleuderte ihn zur Schwelle. Während der Stein durch die Luft flog, duckte Puller sich hinters Auto. Der Stein schlug auf, aber nichts geschah. Puller klaubte einen zweiten Stein aus der Erde und warf ihn gegen den Türknauf. Der Stein knallte dagegen, und wieder hatte es keine Folgen.
Er entnahm dem Rucksack einen langen Teleskopstab mit Greifvorrichtungen am vorderen Ende, den man in praktisch jedem Winkel knicken konnte. Dann klemmte er den Zimmerschlüssel in einen der Greifer und zog den Teleskopstab aus.
Anschließend sah er sich vorsorglich noch einmal um. Offenkundig war das Motel menschenleer und er derzeit der einzige Gast.
Puller schob den Schlüssel ins Schloss, drehte ihn um und benutzte den Stab, um die Tür aufzuschieben. Keine Explosion. Kein Feuerball.
Er packte das Werkzeug zurück in den Rucksack, verriegelte das Auto und suchte sein Zimmer auf. Einen Moment stand er still da und wartete, dass seine Augen sich an die Dunkelheit gewöhnten. Alles sah so aus, wie er es verlassen hatte. Er überprüfte seine gewohnheitsmäßig angebrachten Sicherheitsvorkehrungen, um festzustellen, ob ein Fremder im Zimmer gewesen sein könnte. Doch er fand sie samt und sonders unverändert vor. Er schloss die Tür und sperrte ab.
Puller setzte sich aufs Bett. Die Liste seiner Fehlschläge wurde länger. Er hatte den Stolperdraht zu spät gesehen. Es war ihm nicht gelungen, Louisa zu retten.
Er sah auf die Uhr und überlegte, ob er Cole anrufen sollte. Aber wahrscheinlich lag sie schon im Bett. Und was könnte er ihr überhaupt sagen?
Puller streckte sich auf dem Bett aus. Seine Faust würde die ganze Nacht hindurch die M11 halten.
Das Handy surrte. Er sah die Nummer des Anrufers und stöhnte innerlich auf. »Hallo, Sir.«
»Hier herrscht verflucht tote Hose, Hauptfeldwebel«, sagte sein Vater. Der Alte nannte ihn wechselweise seinen »ausführenden Offizier«, häufig »Hauptfeldwebel« oder manchmal schlichtweg »Schütze Arsch«.
»Inwiefern, Sir?«
»Es liegen keine Befehle des Oberkommandos vor, es ist Samstagabend, und wir haben nichts zu tun. Was halten Sie davon, dass wir uns treffen und uns die Nacht um die Ohren schlagen? Wir können mit einem planmäßigen Militärtransporter nach Hongkong fliegen. Ich kenne da so einige Lokale. Dort geht’s rund. Und da sind hübsche Mädchen.«
Puller knotete die Schnürriemen seiner Springerstiefel auf und schüttelte sie von den Füßen. »Ich bin im Dienst, Sir.«
»Nicht, wenn ich das Gegenteil erkläre, Schütze Arsch.«
»Ich habe besondere Order, Sir. Direkt aus dem HQ.«
»Wieso weiß ich darüber nicht Bescheid?«, fragte sein Vater gepresst.
»Die normale dienstliche Befehlsstruktur ist umgangen worden. Nach dem Grund habe ich nicht gefragt, General. So ist es eben bei der Armee. Ich befolge lediglich rechtmäßig ergangene Befehle, Sir.«
»Dann werde ich mal ein paar Telefonate führen. Dieser Quatsch muss aufhören. Falls irgendwer noch ein einziges Mal an mir vorbei zu schalten und zu walten versucht, wird er es bereuen.«
»Jawohl, Sir. Habe verstanden, Sir.«
»Das soll man mir büßen.«
»Jawohl, Sir. Ich wünsche Ihnen viel Vergnügen in Hongkong.«
»Halten Sie die Ohren steif, ausführender Offizier. Ich rufe Sie wieder an.«
»Sehr wohl, Sir, alles klar.«
Pullers Vater beendete das Gespräch. Unwillkürlich fragte sich Puller, ob man dem Alten des Abends keine Medikamente mehr verabreichte. Wenn er pünktlich seine Pillen schluckte, schlief er um diese Uhrzeit schon tief und fest, doch jetzt hatte er seinen Sohn schon zweimal am späten Abend angerufen. Puller fasste den Vorsatz, sich nach dem Stand seiner
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