Zerrissenes Herz (German Edition)
werden.
Manchmal dachte er so lange und so intensiv an Daisy, dass er sicher war, sie würde seine Anwesenheit spüren.
Unwahrscheinlich. Julian war Realist. Nur weil sein Geist Ich bin am Leben, ich komme nach Hause schrie, hieß das nicht, dass ihn auch jemand hörte.
Während er kleine Steinchen gegen die Zellenwand schnippte, betrachtete er die Markierungen, die er in den Gips geritzt hatte, um die Tage abzustreichen. Ihm war wichtig, den Überblick zu behalten. Jeder einzelne Tag zählt – das hätte sein Ehegelöbnis an Daisy werden sollen. Bevor er die Staaten verlassen hatte, waren sie übereingekommen, dass jeder sein Gelöbnis selbst verfasste. Julian war es schwergefallen, er hatte sich gefragt, wie er alles, was er fühlte, in eine zweiminütige Rede bringen sollte. Jetzt erkannte er, dass die Botschaft einfach und klar sein musste; er wollte sein Leben mit ihr verbringen und jeden Tag, den sie auf dieser Welt verbrachten, gemeinsam mit ihr feiern.
Das Einzige, was er dazu tun musste, war: einen Weg finden, aus dieser Hölle zu entkommen und nicht zum verbitterten Langzeitgefangenen zu werden wie Dantès in dem Roman, den er wieder und wieder gelesen hatte.
Er musste mit kühlem Kalkül vorgehen. Der Überraschungsmoment würde sich ihm nur einmal bieten.
Im Training war ihm eine Botschaft immer und immer wieder eingeimpft worden: Es gibt immer einen Ausweg .
An diesen Gedanken klammerte er sich wie an einen Rettungsring.
Er wusste, dass die verstreichende Zeit eine weitere Form der Folter war. Er hatte keine Ahnung, was seiner Familie mitgeteilt worden war. Dass er verschollen war? Oder, Gott behüte, in Ausübung seiner Pflicht umgekommen? Das lag durchaus im Bereich des Möglichen. Aber nein. So funktionierte das nicht.
Ganz zu Anfang seiner Gefangenschaft hatte er immer auf das kleinste Anzeichen dafür gelauscht, dass die Rettungstruppe im Anmarsch war – das Dröhnen eines Hubschraubers, das Rascheln von Stiefeln in der Nacht, das leise Knistern eines Funkgeräts. Doch er hatte nichts gehört. Entweder hatte es keinen Rettungstrupp gegeben, oder den Männern war nicht gelungen, Gamboas labyrinthartige Organisation zu durchdringen.
Die Zelle war mit einem Metallbett ausgestattet, das am Boden festgeschraubt war, darauf lag eine dünne Matratze. Es gab einen Eimer für seine Ausscheidungen, um die er sich selber kümmern musste, weil die Wachen zu schlampig waren. Nichts davon ließ sich als Waffe gegen die Wachen einsetzen, die sich – wenn auch nicht sonderlich gewissenhaft – um ihn kümmerten.
Vom Rollstuhl und von seinem Bett aus hatte er den kompletten Lebenszyklus einer großen braunen Spinne beobachtet. Es hatte fast etwas Meditatives, das hauchdünne Netz anzuschauen, das sie in einer Ecke gesponnen hatte und dessen gleichmäßig verteilte Fäden darauf warteten, schon bald die nächste Mahlzeit in ihre sanfte, klebrige Umarmung zu ziehen. Die Spinne war sowohl geduldig als auch wählerisch. Sie ließ sich Zeit, suchte sich ihre Kämpfe wohlüberlegt aus. Sie gab sich zum Beispiel nicht mit einer Wespe ab und fraß auch keine Motten. Vermutlich war die Wespe ein zu starker Gegner und die Motte zu giftig.
Zieh nur in die Schlachten, die du auch gewinnen kannst. Miguel Cuevas hatte Dienst. Julian hatte den Einsatzplan auswendig gelernt. Cuevas war nicht der Aufmerksamste, und erarbeitete am Freitag, wenn das Wasserflugzeug in der Abenddämmerung ankam. Wenn er sich langweilte, sprach er über seine Freundin und seine Katze. Außerdem verschickte er ständig Textnachrichten mit seinem Handy.
Julian hoffte, dass er den Mann nicht würde umbringen müssen. Er würde es jedoch tun, wenn es nicht anders ging.
Trotz der nachlässigen Einstellung der Wache bestand ein hohes Risiko, dass der Plan fehlschlug, was gleichbedeutend war mit einem hohen Risiko, zu sterben. Eine Vorstellung, die Julian gar nicht gefiel.
Cuevas kam wie üblich mit dem Tablett hinein. „ Hola, amigo. “
„Wie geht es dir heute?“, fragte Julian.
„Ich bin sehr zufrieden. Meine novia , Celisse, ist eine feine Frau. Eine sehr feine Frau.“ Er reckte stolz die Brust.
Es war ein Gespräch, wie sie es schon viele Male geführt hatten, Routine sozusagen. Miguel war vor Anbruch des Wochenendes meistens sehr gesprächig und hatte es nicht eilig, seine anderen Pflichten zu erfüllen. Und wie immer ging auch jetzt wieder eine Textnachricht bei ihm ein. Das war der entscheidende Moment.
Jeder wusste, dass man
Weitere Kostenlose Bücher