Zerrissenes Herz (German Edition)
einem Gefangenen nie den Rücken zudrehen durfte, aber der an den Rollstuhl gefesselte Julian war ja keine Bedrohung.
Während Cuevas damit beschäftigt war, seine Nachricht zu lesen und zu beantworten, holte Julian zum entscheidenden Schlag aus.
Er schoss aus dem Rollstuhl und drückte Cuevas von hinten die Luft ab. Dem Wärter fiel das Handy aus der Hand, während er bewusstlos zu Boden sank. Es wäre sicherer, ihn zu töten, aber Julian tat es nicht. Er schnappte sich Cuevas’ Waffe, steckte dem Mann dann einen Streifen seines Unterhemds in den Mund und band es hinter seinem Kopf fest.
Dann tauschte er mit der Wache die Kleidung und legte den Mann ins Bett. Mit weiteren Stoffstreifen band er ihn am Bettgestell fest, sogar den Kopf, damit er nicht wild herumzucken konnte.
Cuevas kam wieder zu sich, als Julian sich gerade die Stiefelzuband. Er gab ein ersticktes Geräusch von sich und starrte den auf einem Bein balancierenden Julian an, der gerade das Hosenbein der geborgten Uniform in den Stiefelschaft steckte.
„Überraschung“, sagte Julian. „Tut mir leid, dass du es auf diese Weise herausfinden musstest. Ach, wem mache ich was vor. Tut mir natürlich nicht leid.“ Verdammt, aber es fühlte sich gut an, wieder im eigenen Körper zu stecken, nicht mehr tun zu müssen, als ob. Er hatte seine Heilung geheim gehalten. Seine Geiselnehmer hatten es ihm leicht gemacht, indem sie ihn nicht in die Obhut eines Arztes gegeben hatten. Nach dem ersten Tag, an dem der Arzt ihm ein paar Mal die Spritze in die Füße und Beine gestochen und ihn danach für querschnittsgelähmt erklärt hatte, waren Julians Beine nie wieder untersucht worden. Der Arzt hatte zwar empfohlen, ihn einer Physiotherapie zu unterziehen, aber niemand hatte sich darum geschert.
Es hatte nicht lange gedauert, und das Gefühl war ganz langsam zurückgekehrt. Anfangs war ihm nur ein leichtes Zucken im großen Zeh aufgefallen. Bald schon hatte er seine Füße bewegen, die Knie beugen können. Er war sein eigener Physiotherapeut geworden und hatte im Geheimen gearbeitet, mitten in der Nacht, hatte seine Kraft durch Kniebeugen und gymnastische Übungen wieder aufgebaut.
Die Tage hatte er im Rollstuhl verbracht, weiter in den Beutel gepinkelt und den Hilflosen gespielt. Die meisten hätten überhaupt nicht gewusst, wie man eine Querschnittslähmung vortäuscht, aber Julian hatte damit aus erster Hand Erfahrungen gesammelt. Nach dem Unfall seines Vaters hatten sie gemeinsam gelernt, mit der neuen Situation umzugehen. Er wusste, wie es aussah und was getan werden musste. Als er um Zäpfchen und Latexhandschuhe gebeten hatte, hatten seine Geiselnehmer keine Fragen mehr gestellt und ihm einfach alles gegeben.
An Cuevas’ Gürtel steckte noch eine kleinkalibrige Pistole. Außerdem war der Wärter mit einem Schnappmesser, einem Leatherman, einem Feldstecher, einer Packung Zigarillos und einigen Streichhölzern, Kondomen, etwas Bargeld und dem allgegenwärtigenkleinen Beutel bazuco ausgestattet, einer Paste aus vorverarbeitetem Kokain, die eine ähnliche Wirkung wie Crack hatte. In dieser Gegend war das Zeug weit verbreitet und wurde von den Männern gern geraucht.
„Du bist ein echter Pfadfinder, was?“, murmelte Julian. Er hatte all die Sachen an sich genommen. Er würde sich wohler fühlen, wenn er eine der Maschinenpistolen der Rebellen hätte, aber die hatte Cuevas leider nicht dabei.
Vielleicht würde Julian draußen noch eine Wache stilllegen müssen und könnte dadurch an eine stärkere Waffe kommen. Er schnitt sich die Haare mit dem Messer und zog sich die Mütze des Wärters danach tief ins Gesicht, es war eine Kappe aus grünem, dickem Baumwollstoff mit großem Schild.
Auf Cuevas’ Handy gingen weitere Textnachrichten ein. Julian beeilte sich, das Telefon auf lautlos zu stellen.
„Sie hat dir ein schmutziges Bild von sich geschickt“, informierte er seinen Gefangenen. „Keine Sorge, ich habe nicht geguckt. Die Betreffzeile hat es mir verraten.“ Er zögerte und fragte sich, wie Cuevas auf den eingehenden Text reagiert hätte. Auf jeden Fall umgehend. Der Kerl war ja nahezu süchtig nach SMS.
Julian scrollte durch ein paar der gesendeten Nachrichten, um sich einen Eindruck zu verschaffen, wie der Mann schrieb. Texte im spanischen Slang zu verfassen war nicht gerade seine größte Stärke. Er erzählte der novia , dass er heute für einen Kollegen einspringen und eine Extraschicht einlegen müsse und sich später wieder bei ihr
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