Zerrissenes Herz (German Edition)
Charlies Hand und zog ihn mit sich. „Brandon“, rief sie. „Charlie möchte dir etwas sagen.“
Brandons Mutter Misha drehte sich zu ihnen um. Sie war schon etwas älter und hatte eine erfolgreiche Karriere in der Werbebranche hinter sich. In ihrem makellosen St.-John’s-Anzug und der perfekt sitzenden Frisur strahlte sie Stil aus … und eisige Verachtung.
„Geh schon!“, sagte Logan und gab Charlie einen kleinen Schubs.
Charlie starrte auf den Boden und murmelte etwas.
„Das musst du noch mal sagen“, verlangte Daisy. „Sieh ihm dabei in die Augen und sprich lauter.“
Charlie zitterte. Seine Stimme war leise, aber klar, als er den anderen Jungen anschaute und sagte: „Es tut mir leid, dass ich dich angeschrien und geschubst habe, weil du mich einen Spasti genannt hast.“
Okay, das war vielleicht nicht ganz die großzügige Entschuldigung, an die sie gedacht hatte, aber die Worte „Es tut mir leid“ waren gefallen.
Unaufgefordert streckte Charlie die Hand aus. Brandon, ein Junge mit dem Gesicht eines Engels und frostigen blauen Augen, trat einen Schritt zurück. Seine Mutter schob ihn vorwärts. Die Hände der Jungen berührten sich für ein kurzes Händeschütteln, dann ließen sie einander los, als hätten sie einen heißen Ofen berührt.
„In Ordnung“, sagte Logan. „Gehen wir, Charlie. Wir sehen uns, Mrs Wilkes.“
Daisy bemerkte Misha Wilkes’ steife Haltung und ihren verächtlichen Gesichtsausdruck, sah aber in ihren Augen auch eine gewisse Verwunderung aufblitzen.
„Noch einen schönen Tag“, murmelte Daisy und folgte Logan zum Auto.
Zu Hause schickte sie Charlie nach oben, damit er sich umzog. In der Zwischenzeit zeigte sie Logan den Brief der Lehrerin.
„Sie will sich mit uns treffen. Es geht nicht nur um seine Fortschritte. Sie sagt, dass er den anderen Schülern gegenüber aggressiv und streitsüchtig ist – wie wir eben nach der Kirche ja selber gesehen haben.“
„Der kleine Scheißer hat ihn provoziert“, entgegnete Logan. „Er hat ihn einen Spasti genannt. Ich bitte dich.“
„Ich will, dass Charlie lernt, in solchen Fällen einfach zu gehen.“ Eine Welle der Übelkeit erfasste sie, und sie setzte sich an den Küchentisch. „Oh Gott.“
„Ist alles okay?“
„Ja, mir geht es gut. Ich hatte nur gerade ein fürchterliches Déjà-vu.“
„Was meinst du?“
„Mein Bruder Max“, sagte sie. „Er hat sich in der Grundschule die ganze Zeit über so schwergetan. Er hat diese Wutanfälle bekommen, in denen ihn nichts und niemand mehr erreicht hat. Meine Eltern hatten Nachhilfelehrer und Psychologen im Dutzend engagiert. Und trotzdem hat er erst lesen gelernt, als er ungefähr zehn war. Er hat dann nicht mehr als einen Sommer dafür gebraucht.“
„Dann hat wohl irgendwas bei ihm Klick gemacht.“
Sie hielt inne und dachte an die damalige Zeit zurück. „Das war der Sommer, in dem meine Eltern sich getrennt haben“, erzählte sie leise.
„Glaub mir, ein Kind kann auch lesen lernen, ohne dass seine Familie auseinanderbricht.“
„Ich meinte ja nicht …“ Daisy sprach nicht weiter. „Ich nehme an, es hatte mit dem Stress zu tun. Wie auch immer, zurück zu Charlie. Die Bücherei öffnet heute um zwölf. Wir lassen ihn ein paar Bücher aussuchen und …“
„Tut mir leid, ich habe heute schon andere Pläne“, sagte Logan. „Heute ist Fußball.“
„Oh.“ Sie biss sich auf die Zunge, hin- und hergerissen. Entwedersie sagte ihm, er solle seinen Fußball zum Teufel schicken, oder sie wünschte ihm viel Spaß beim Spiel. „Meine Güte, Logan! Das machst du immer.“
„Was mache ich immer?“
Als wenn er es nicht wüsste. „Du findest immer einen Grund, abzuhauen, wenn ein Problem auftaucht.“
„Das ist Blödsinn, und das weißt du.“
„Dann bleib hier und hilf mir!“
„Ich sage dir, was hilft. Einen Schritt zurückzutreten und das Kind in Ruhe zu lassen. Er wird sich schon fangen. Ich lese ihm heute Abend ein Buch vor.“
Ganz ruhig, sagte sie sich. Logan arbeitete die Woche über schwer und lebte für die Zeit mit seinen Fußballkumpels. Dann fiel ihr etwas anderes ein. „Hast du heute Abend nicht dein Treffen?“ Die Treffen der Anonymen Alkoholiker fanden mit unveränderlicher Regelmäßigkeit statt.
„Ja, und ich will es nicht verpassen“, sagte er schulterzuckend. „Mach dir keine Sorgen, ich finde schon Zeit, um mit Charlie zu lesen.“
Sie wusste, dass die Zeit sich nicht wie von Zauberhand hinzufügen lassen würde.
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