Zerrissenes Herz (German Edition)
Musik spielte. In Daisys Fall war es ein Albtraum gewesen, der sich in aller Öffentlichkeit vor einer Gruppe Mitreisender abgespielt hatte. Kein zärtlicher Augenblick, an den man sich Jahre später noch mit tränenfeuchten Augen erinnerte, sondern ein Moment, in dem sie sich gewünscht hatte, der Boden möge sich öffnen und sie einfach verschlucken.
Statt mit einer herzergreifenden Liebeserklärung hatte es mit einem Streit angefangen. Was dann passiert war, ließ sie heute noch innerlich zusammenzucken. Eine Gruppe Schaulustiger. Fremde, die vom Drama angezogen immer näher gekommen waren. Es hatte einen Moment gegeben, den Bruchteil einer Sekunde, in dem Daisy geglaubt hatte, der Ring wäre aus Julians Tasche gefallen. Aber nein. ROTC-Kandidaten wurden nicht ermutigt zu heiraten.
Sekunden später, als sein Auge langsam zugeschwollen undeine kleine Blutspur an seiner Lippe heruntergelaufen war, hatte Logan das Kästchen erneut aufschnappen lassen und gesagt: „Ich wollte dich damit überraschen, aber der Schwachkopf hier hat alles vermasselt. Ich möchte, dass du meine Frau wirst.“
Julian hatte ein angewidertes Geräusch von sich gegeben und sich mit steifen Schritten vom Bahnsteig entfernt. Weitere Passagiere waren fasziniert näher gekommen. Daisy hatte um einen schnellen, erlösenden Tod gebetet.
An jenem Weihnachtsfest hatte sie sich geweigert, Julian oder Logan zu sehen. Im darauffolgenden Semester und den Sommer über hatte sie im Ausland Fotografie studiert. Nach einigen Monaten in Deutschland mit Sonnet war Daisy genauso verwirrt und unsicher wie vorher heimgekehrt.
„Das Angebot steht noch“, sagte Logan jetzt, und sie wusste genau, was er meinte.
„Meine Antwort auch.“
Logan lächelte ein wenig. „Deine Lippen sagen Nein, aber was du wirklich meinst, ist: Noch nicht.“
„Nein heißt nein“, murmelte Charlie, der gerade schläfrig lächelnd aufgewacht war. Es war einer der Sätze, den Daisy in seiner Gegenwart oft sagte.
„Hey, Kumpel.“ Logan hockte sich hin und befreite den kleinen Kerl aus dem Kindersitz. „Ich hab mich schon den ganzen Tag darauf gefreut, dich zu sehen.“
„Dad.“ Charlie klammerte sich an ihn und küsste ihn.
Daisy beobachtete die Szene; die Zärtlichkeit der beiden berührte ihr Herz – und erfüllte sie gleichzeitig mit Verzweiflung. Kompliziert. Das war das Wort, das ihr Leben beschrieb. Wie einfach alles wäre, wenn sie nur daran glauben könnte, für Logan bestimmt zu sein. Sie drei zusammen – eine Familie. Was stimmte nicht mit ihr? Sie und Logan hatten zusammen dieses wundervolle Kind gezeugt. Warum konnten sie nicht gemeinsam glücklich werden?
5. KAPITEL
D er Offizier im Spiegel starrte Julian mit feierlicher Ernsthaftigkeit an. Wer war dieser seriöse Mann? Er erkannte sich selbst nicht. War er das wirklich?
Wie so vieles im Offizierstraining gehörte das zur Strategie der Air Force. All der Drill und die Vorbereitungen dienten dazu, das Individuum auseinanderzunehmen und neu zusammenzusetzen, auf dass es neugeboren wurde. Julian passte es ganz gut, eine Vergangenheit, die er nicht ändern konnte, durch etwas zu ersetzen, worüber er Kontrolle hatte. Er lernte langsam auch, so auszusehen – wie ein Offizier. Ein Anführer. Ein Krieger.
„Mannomann“, sagte Davenport und stieß einen Pfiff aus. „Wenn du mal nicht süß wie Honig bist.“
„Leck mich.“ Der Mann im Spiegel grinste und kam ihm jetzt ein wenig vertrauter vor. Julian schaute auf die Uhr. „Ich bin so weit; meinetwegen kann die Show losgehen.“
„Setz dich! Wir haben noch eine halbe Stunde.“
„Kann ich nicht“, erwiderte Julian.
„Was kannst du nicht?“
„Mich hinsetzen. Weißt du, wie lange ich gebraucht habe, um die Bügelfalten so hinzubekommen?“
„Stunden über Stunden“, antwortete Davenport lachend. Dann wurde er ernst. „Mann, du siehst echt umwerfend aus. Oder zumindest so, als hättest du dir die Vereidigung heute redlich verdient.“
Julian hatte keine Ahnung, ob sein Zimmergenosse recht hatte. Er hatte sich während der Ausbildung regelrecht den Arsch aufgerissen. Aber wenn er an seinen ersten Auftrag dachte, wusste er nicht, ob er auch nur einigermaßen ausreichend vorbereitet war. Das Frustrierendste an seiner ersten Entsendung war, dass es sich um einen streng geheimen Auftrag handelte. Er durfte mit niemandem über die Einzelheiten sprechen. Die meisten Details kannte er noch nicht einmal selbst. Im letzten Jahr war er dazu
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