Zerrissenes Herz (German Edition)
Daisys Mutter sich in Avalon niedergelassen und war Partnerin in einer Anwaltskanzlei geworden. Entgegen aller Erwartung hatte sie sich in den Tierarzt verliebt und hätte nicht glücklicher sein können.
Daisy seufzte zufrieden und schaute zu Julian hinüber. Er musste ihren Blick gefühlt haben, denn er drehte seinen Kopf ebenfalls. Mit seiner Hightech-Pilotenbrille sah er einfach unglaublich aus. Top Gun in einem rosafarbenen Polohemd.
Das Flugzeug glitt über die Shawangunks, einen felsigen Bergkamm, der von tiefen Schluchten durchzogen war. Diese Gegend war für sie beide von ganz besonderer Bedeutung.
„Weißt du noch?“, fragte er und zeigte auf die dramatische Felsformation, die sich über den Fluss erhob. Ein paar Kletterer, die aus der Distanz wie vierbeinige Spinnen aussahen, hingen an den glatten Flächen. Julian hatte Daisy in ihrem ersten Sommerhierhin zum Klettern mitgenommen. Sie hatte getobt und sich gegen das Klettern mit fast der gleichen Kraft gewehrt, mit der sie sich anfangs gegen ihre Freundschaft gewehrt hatte.
Zu dem Punkt in ihrem Leben hatte sie sich nicht erlaubt, irgendjemandem zu trauen. Das hatte Julian mit eingeschlossen, auch wenn er sie von Anfang an total fasziniert hatte. Auf seine Aufforderung zu klettern hatte sie erst mit Flucht reagiert, doch er war einfach nur geduldig gewesen. Er hatte gewusst, dass sie sich irgendwann beruhigen würde. Er war der einzige Mensch, der ihre Abenteuerlust erkannt hatte. Jeder andere hatte sie für ein verwöhntes Großstadtmädchen gehalten, dem ein Leben voller Shoppingtrips und Lunchverabredungen bevorstand. Julian dagegen hatte sie dazu herausgefordert, mehr zu wollen, mehr zu sein.
Auf dem Gipfel hatte sie sich in den roten Staub gelegt und etwas getan, was ihr Leben komplett umgekrempelt hatte. Sie hatte das, was ihre letzte Schachtel verbotener Zigaretten hatte sein sollen, herausgeholt, mit Julian als Zeuge ein kleines Feuer entfacht und die fast volle Packung verbrannt. Seit jenem Tag hatte sie nie wieder eine Zigarette angerührt.
Es wäre nett gewesen, wenn dieser besondere, heilende Tag sie irgendwie gegen zukünftige Fehler und Tiefschläge gefeit hätte, aber dem war nicht so. Am Ende des Sommers war sie für das letzte Jahr auf ihre Privatschule zurückgekehrt, wo sie es geschafft hatte, ihr Leben noch mehr zu versauen.
Unglaublich mehr.
Julian steuerte das Flugzeug über den Wasserfall am Deep Notch, wo sie eines Winters zum Eisklettern gewesen waren. Ein weiterer Ort, der in einzigartige Erinnerungen gehüllt war. Wer außer Julian würde es für eine gute Idee halten, eine Eiswand zu erklimmen? Und wer außer Julian hätte sie davon überzeugen können mitzumachen? So vieles, was sie gemeinsam getan hatten, hatte mit Klettern und Streben zu tun gehabt. Sie hatten sich auf gefährliche Freizeitaktivitäten eingelassen, Extremsportarten ausprobiert. Für Daisy war daran am lustigsten gewesen,dass sie immer bestand, wenn sie mit Julian eins seiner unmöglichen Abenteuer erlebte.
Das obere Ende der Eiswand zu erreichen war eine persönliche Belohnung gewesen. Doch das war nicht die einschneidendste Erinnerung, wenn sie an jenen Tag zurückdachte. Sie erinnerte sich daran, zitternd und schwitzend vom Aufstieg auf dem gefrorenen Gipfel gesessen zu haben, und endlich hatten sie sich geküsst. Zum ersten Mal. Schon davor hatte sie gewusst, dass sie ihn liebte. An jenem Tag aber hatte sie zum ersten Mal geahnt, dass sie damit vermutlich niemals aufhören würde.
„Und wie steht es mit diesem Ort?“, fragte Julian sie jetzt über den Kopfhörer.
Sie tat nicht einmal so, als wäre sie scheu. „Ich erinnere mich an jede Minute.“
„Ich auch.“ Sie flogen in Richtung Willow Lake. Aus der Höhe sah die kleine Uferstadt Avalon gleichzeitig vertraut und komplett anders aus, wie etwas, was von einem Computer animiert worden war. Der Marktplatz und der Park am Seeufer waren förmlich von Leuten gesprenkelt, die den Tag genossen. Daisy erblickte den Avalon Meadows Golf Course and Country Club, wo sie schon oft auf Hochzeiten fotografiert hatte, und das Inn am Willow Lake, das ihrem Vater und ihrer Stiefmutter gehörte und auch von beiden betrieben wurde.
Daisy schaute nach unten, direkt auf den Wasserfall, der als Meerskill Falls bekannt war. Wie ein Brautschleier fiel er über eine steile Klippe. Ganz oben, beinahe nicht zu sehen, gab es Hügel und Klippen, die von den berühmten Eishöhlen durchsetzt waren. Ein weiterer Ort,
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