Zersetzt - Thriller (German Edition)
und streichelte verzweifelt über seine Wange. Ihre Bauchkrämpfe verschlimmerten sich, sie kamen in Intervallen, immer und immer wieder.
»Deine Beine - ich versuche, dich rauszuziehen.« Julia griff unter seine Achseln und zog mit aller Kraft.
»Das schaffst du nicht … Wo ist Mama?… Wo sind die anderen Beteiligten? Ruf 112.« Julia stand auf und bemerkte, dass die Blutlache auf dem Asphalt von ihr stammen musste und nicht von ihrem Vater. Ihr drehte sich der Kopf, sie spürte einen stechenden Schmerz, der über ihre Halswirbelsäule mit pressluftartigem Gehämmer in ihrer Schädeldecke eindrang. Ihr wurde übel, doch kurz bevor sie sich übergeben musste, hörte sie wieder:
»Wo ist Mama? Ruf den Notarzt!«
Karls Stimme war vollkommen klar. Wie in einem Karussell gefangen, wollten Julias Gedanken nicht anhalten. Sie konnte nichts tun, stand wie angewurzelt da und sah ihren Vater Hilfe suchend an. Während Karl beruhigend auf Julia einredete, konnte sie langsam wieder einen klaren Gedanken fassen. Wo ist Mama, wo sind die anderen, Polizei! Notarzt! – Ja.
Sie rappelte sich auf und bemerkte auf dem Weg zurück zum dunkelblauen BMW die Wrackteile, die an der Unfallstelle überall verstreut lagen. Sie suchte das Handy und wählte den Notruf. Während des Telefonates schweifte ihr Blick über die Straße, auf der ein lebloser Körper lag. Mama? Durch die schlechte Beleuchtung konnte sie nicht genau erkennen, um wen es sich handelte. Was sollte sie tun? Auf die Straße rennen und riskieren, von dem nächsten Fahrzeug erfasst zu werden, oder die Person liegen lassen? Es konnte ihre Mutter sein – sie konnte noch leben. Wenn der nächste Wagen kommt, könnte er einfach über den Körper fahren. Das Blut rann weiter von Julias Stirn und – woher auch immer – an ihren Beinen herab, aber es war ihr egal. Sie musste reagieren, handeln, für alle anderen da sein, denen es schlechter ging als ihr.
Julia sah nach links, ob ein weiteres Fahrzeug auf der Autobahn ihren Weg kreuzen würde – nichts. Sichtweite unter zwanzig Meter. Konnte sie die leblose Person, die vielleicht ihre Mutter war, schnell genug in Sicherheit bringen, bevor Julia selbst möglicherweise überrollt wurde? Es half nichts, sie musste einen Versuch starten – helfen. Wann treffen die Rettungsfahrzeuge ein? Reiß dich zusammen, Julia! Wieder sah sie nach links – nichts, keine Lichter. Sie rannte los, bis zur Mitte der zweispurigen Fahrbahn. Ein Mann lag auf den Bauch gedreht vor ihr. Während sie sich nach unten beugte, kontrollierte sie wieder, ob sich ein Fahrzeug näherte. Lebt er noch? Sie versuchte, den bleiernen Leib zu drehen, es war keine Zeit, um festzustellen, ob er noch atmete, sie musste handeln, egal wie. Wieder sah sie sich um – nichts. Sie packte den Verunglückten unter den Armen und versuchte, ihn in Richtung Standstreifen zu ziehen. Er wog mindestens achtzig Kilo, was für einen Mann seiner Größe nichts Außergewöhnliches war. Nur jetzt, genau in diesem Moment und ohne seine Mithilfe war er zu schwer für Julia. Wieder der fragende Blick über die Schulter nach entgegenkommenden Scheinwerfern – nichts.
»Hallo, hallo, aufwachen, hören Sie.« Julia beugte sich zu dem Unbekannten und tätschelte seine Wangen. Er bewegte sich nicht. Ich muss es schaffen, muss den Kerl von der Straße weg bekommen. Wieder beugte sie sich nach vorne, griff unter seine Arme und zog. Der prüfende Blick nach links. Scheinwerfer. Lichter. Panik!
»Aufwachen, Hilfe, los, werd wach«, schrie Julia. Im letzten Moment bewegte er seine Beine und stieß sich von der Straße ab. Mit aller Kraft zog sie den schweren Körper auf den Seitenstreifen und fiel hin. Das Licht rauschte an ihnen vorbei und der knatternde Auspuff dröhnte in Julias Ohren. Der Mann, der jetzt mit seinem Oberkörper Julias Leib halb bedeckte, drehte sich um und sah sie mit verwirrtem Blick an, bevor er wieder das Bewusstsein verlor.
Auf ihr Zeitgefühl konnte sich Julia nicht mehr verlassen. Es konnten zehn Minuten, aber auch gut eine halbe Stunde vergangen sein, seitdem sie die Rettungskräfte verständigt hatte. Obwohl sie sich aus der Schockstarre befreit hatte, konnte sie nicht klar denken. Wie auch, wenn sich der Schmerz ihrer Kopfverletzung immer tiefer in ihr Hirn bohrte und das Blut nicht zu stillen war? Wo bleibt der Krankenwagen? Die kolikartigen Krämpfe, die ihren Unterbauch in Beschlag nahmen, zwangen sie immer wieder dazu, sich zu krümmen. Als
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