Zersplittert: Dystopie-Trilogie Band 2 (German Edition)
Immerhin sind Lorder anwesend. Die Übertragung würde unterbrochen. Ob sie Mum verhaften? Sie erschießen?
Nico hat es ausgeschlossen. Das würden die Lorder nicht wagen, sie müssten sich zur Abwechslung mal an die Gesetze halten, denn alle Welt sieht zu. Und sollten sich Mums Anschuldigungen als wahr herausstellen, könnte man sie auch nicht des Landesverrats anklagen. Und Nico hat versprochen, dass er Robert finden und beweisen wird, dass Mums Geschichte stimmt.
Es sei denn, die Lorder erschießen sie kurzerhand, um sie am Weiterreden zu hindern. Nicht auszudenken. Das Land würde die Lorder im Einsatz erleben, sie endlich einmal so sehen, wie sie wirklich sind.
Und wenn Mum nun doch nicht die Wahrheit sagt … Ich versuche, zur kalten Entschlossenheit zurückzufinden. Konzentrier dich. Hand in Ärmel. Waffe. Schuss. Das schaffe ich. Blut wird fließen. Aber erst anschließend, und was macht das schon, wenn ich dann ausflippe. Bei den vielen Lordern bin ich sowieso schon vorher tot. Wir werden beide tot sein.
»Kyla?« Amy stupst mich in die Seite. »Lächeln.«
Ich bringe meine Gesichtszüge unter Kontrolle. Das Runterzählen beginnt. An der Kamera leuchtet das Aufnahmelämpchen und dann …
Legt sie los.
»Heute vor 25 Jahren sind William Adam M. Armstrong und seine Frau Linea Jane Armstrong durch Terroristen auf tragische Weise ums Leben gekommen. England hat den Premierminister und seine Frau verloren. Ich beide Eltern. Das Datum kommt nicht von ungefähr. Der 26. November. Heute vor dreißig Jahren wurden in ebendiesem Saal die Verträge zur Bildung der Zentralkoalition unterzeichnet. Einer Regierung, die unter der Leitung meines Vaters die Aufstände beendete und dem Land wieder Frieden gegeben hat. Heute stehe ich mit meiner Familie vor Ihnen und frage mich, was mein Vater wohl sagen würde, wenn er hier sein könnte. Wie würde er sich verhalten?« Mum verstummt. Die kleinen weißen Karten mit den Stichwörtern hält sie krampfhaft in den Händen, sieht aber nicht drauf.
Hinter der Kamera tauschen zwei Funktionäre argwöhnische Blicke. Mum ist von der offiziellen Rede abgewichen! Hoffnung keimt in mir auf.
»Mein Vater war ein Mann mit Prinzipien. Er hat fest daran geglaubt, das Richtige zu tun, und er hat hart dafür gekämpft, aus diesem Land einen sicheren Ort für seine Kinder und Kindeskinder zu machen. Und zwar zu einer Zeit großer Unruhen, wo das wie ein unmöglicher Traum erschien. Dennoch hat er seinen Enkel nie kennengelernt. Einen Sohn, der mir auch genommen wurde.«
Sie tut es wirklich. Unwillkürlich lege ich ihr die Hand auf die Schulter. Mum greift danach und hält sie fest.
Ein Funktionär flüstert mit einem Techniker, lauscht aufmerksam.
»Eine meiner hübschen Töchter hat mich heute daran erinnert, wie wichtig es ist, das Richtige zu tun. Die Wahrheit zu sagen. Aber für mich sieht die Wahrheit so aus: Wir sollten endlich aufhören, uns an die Vergangenheit zu klammern. Es gibt kein Zurück, nur ein Vorwärts. Unser Land sollte sich darauf konzentrieren, gute Zukunftsaussichten für unsere Kinder und Enkelkinder zu schaffen.«
Die Lorder sind in Alarmbereitschaft; mit ihrer Rede bewegt sie sich auf dünnem Eis.
Ihr Blick schnellt zu den Lordern. Lächelnd dreht sie sich zu Amy und mir um.
Ein Lorder marschiert auf den Kameramann zu.
Ihr läuft die Zeit davon. Sag es endlich! Sag, was mit Robert pas siert ist!
Mum wendet sich wieder der Kamera zu: »Danke.«
Ich erstarre. Ist das etwa alles? In dem Moment, als sie sich zu uns umgedreht hat, habe ich es schon in ihren Augen gesehen. Sie würde nie etwas sagen, das Amy und mich in Gefahr bringt. Das war es. Noch immer hält Mum meine Hand, die Hand, die eigentlich nun im Ärmel nach dem Gegenstand greifen sollte, der ihr Leben beenden würde. Meines auch.
Ein Funktionär tritt zu uns. Immer noch wird live gesendet. Er dankt Mum und erläutert den Tagesablauf. Und die ganze Zeit könnte ich ihre Hand loslassen. Unter den Stoff greifen. Noch ist es nicht zu spät. Zäh schleichen die Sekunden dahin, eine Ewigkeit bis zum nächsten Ticken der Uhr, eine Ewigkeit für die Entscheidung.
Denk nach.
Schneide ihnen das Herz raus, hat Katran gesagt. Dabei hat er nur Nico nachgeplappert. Nicos Worte erkenne ich.
Wir brauchen breite Unterstützung, höre ich Katran sagen. Aber mit einem Mord an Mum würden wir das wohl kaum erreichen! Der Denkfehler springt mich förmlich an. Es könnte sogar den gegenteiligen Effekt haben,
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