Zersplittert: Dystopie-Trilogie Band 2 (German Edition)
beschützen. Genau was Mum vorhin zu Hause gesagt hat: sich um Menschen kümmern, die man liebt und die hier und jetzt bei einem sind.
Auf meiner Armbanduhr ist es zwanzig nach zwei.
»Kyla?«
»Cam? Du hast doch mal gesagt, dass ich dich jederzeit um Hilfe bitten könnte?«
»Ja, klar.«
»Kannst du mich ganz schnell nach Hause fahren, damit ich mich umziehen kann? Und mich dann woanders absetzen, ohne Fragen zu stellen?«
Grinsend drückt er das Gaspedal durch.
Zuhause rase ich die Treppe hoch, kicke im Laufen die Schuhe weg und mache das Kleid auf. Im Zimmer schleudere ich es nur in die Ecke, ziehe hektisch Jeans und einen dunklen Pulli an. Mir ist nicht wohl mit der Waffe unter dem Arm, aber vielleicht kann ich sie später noch gebrauchen. Als ich zur Tür stürze, fällt mir noch was ein.
Nicos Kom. Womöglich kann er mich damit orten, und er soll nicht wissen, wohin ich gehe. Ich muss ewig an dem Levo herumfummeln, um den Mechanismus zu finden. Fluchend bin ich schon drauf und dran aufzugeben, da spüre ich eine Kerbe. Auf Druck löst sich das Kom. Ich pfeffere es in die Kommode und renne nach unten.
Cam sitzt schon umgezogen im Auto. »Das ging aber schnell«, sagt er. »Ist es ein Notfall?«
»Keine Fragen, das weißt du doch«, sage ich, gebe aber ein klein wenig nach. »Sagen wir mal, ich helfe einer Freundin.«
Unterwegs gebe ich Cam Anweisungen, wo er langfahren muss, insgeheim frage ich mich, was ich hier eigentlich tue. Traue ich mich wirklich? Kann ich mich gegen Nico stellen?
Ja.
Viel zu lange war ich hin- und hergerissen, zwischen der, die ich war, und der, die ich bin. Aber wer will ich sein? Wer ich jetzt bin und was ich tue, werde ganz allein ich entscheiden.
Es gibt so viele große Fragen politischer Art. In die Katran und Nico verwickelt sind. Die Lorder sind falsch, ganz falsch, aber sollte man ihnen deshalb die Kehle durchschneiden? Ich habe mir eingeredet, dass Nico recht hat, dass ich als Rain meine Entscheidung bereits vor langer Zeit getroffen habe und dass der Zweck alle Mittel heiligt. Aber ich habe mich geirrt. So sieht meine Antwort nicht aus.
Als ich mit Cam den schmalen Weg entlangfahre, über den ich damals mit Nico das erste Mal gekommen bin, werde ich unruhig. Was, wenn Nico heute auch hier entlangkommt? Doch zum Umkehren ist es zu spät.
»Halt an«, sage ich schließlich. »Hier kannst du nicht wenden, du musst erst ein Stück zurücksetzen.«
»Hier soll ich dich rauslassen? Sicher?« Cam versucht, unter den dichten Baumkronen etwas zu erkennen.
»Ja. Danke.«
»Willst du mir nicht endlich sagen, was hier gespielt wird?« Er mustert mich eingehend. »Nun rück schon raus mit der Sprache.«
»Eines kann ich dir sagen: Die Lorder von neulich sind stinksauer auf mich, und ich hoffe, dass es sich nicht auf dich überträgt. Sorry.«
»Stinksaure Lorder klingt gut, nur nicht gerade in meiner Nähe. Aber wenn die eh schon sauer sind, dann lass mich mitkommen. Vielleicht kann ich helfen.«
»Nein.«
Er seufzt. »Kommst du auch wirklich klar?«
»Sicher«, sage ich, die Hand am Griff der Autotür, bereit, notfalls loszusprinten, wenn er sich von der Lüge nicht abwimmeln lässt.
»Viel Glück.«
»Tschüss, Cam.« Ich steige aus dem Wagen und verschwinde zwischen den Bäumen. Eine Weile bleibe ich noch in der Nähe, um mich zu vergewissern, dass er ganz sicher geht. Cam fährt rückwärts und ist nicht mehr zu sehen.
Irgendwie kam mir das eben merkwürdig vor. Hat er nicht etwas zu schnell aufgegeben? Ich lausche dem Motorengeräusch, bis es verklungen ist.
Cam gegenüber habe ich ein total schlechtes Gewissen. Es ist wirklich nicht seine Schuld, dass die Lorder ihn jetzt im Auge behalten. Hoffentlich drehen die ihm da nicht noch einen Strick draus. Wenn gleich alles glattgeht, wenn Dr. Lysander entkommt, wird Coulson schon recht bald wissen, was ich im Schilde führe. Bestimmt ist er darüber nicht gerade erbaut.
Beim Motorradversteck hängt die Plane niedriger als gehofft. Um sicherzugehen, schlage ich sie zurück und seufze: keine Maschinen da. Offenbar sind sie alle in Gebrauch oder stehen am Haus. Also muss ich zu Fuß weiter. Schnell.
Die Luft ist feucht und schwer. Der Himmel zieht sich zu. Und ich bilde mir ein, gedämpfte Geräusche zu vernehmen, hinter denen sich irgendetwas oder irgendjemand verbirgt. Meine Fantasie legt mal wieder eine Sonderschicht ein, ständig drehe ich mich um, weil ich schwören könnte, dass ich einen Zweig knacken oder
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