Zersplittert: Dystopie-Trilogie Band 2 (German Edition)
nicht anders kannte. Außerdem geht es im Krankenhaus allen so.«
»Und dann?«
Ich runzle die Stirn. »Für mich wurde es schlimmer, als ich rauskam. Ich wollte Dinge wissen, die ich unmöglich wissen konnte. Dann füllt man quasi die Lücken mit irgendwas, weil sie zu groß sind. Irgendwann kann man nicht mehr unterscheiden, was wirklich passiert ist und was nicht.«
»Die meisten Slater sehen doch ganz glücklich aus.«
Ich lache. »Das stimmt. Unsere Glücksgefühle werden manipuliert, wusstest du das nicht? Außerdem lernt man, glücklich zu bleiben, damit das Levo nicht brummt und man in Ohnmacht fällt.«
»Glücklich zu sein und Dinge zu vergessen, klingt doch ganz gut«, sagt er leise. Denkt er dabei an seinen Vater? Ich lehne mich zurück und überlege. Ich wäre glücklicher, wenn ich mich an gar nichts mehr erinnern könnte. Wenn ich nicht von Lucy und ihren gebrochenen Fingern träumen würde und Rains Erinnerungen nie aufgetaucht wären. Aber dann hätten die Lorder gewonnen.
»Ja, aber wenn du dir ständig vormachst, glücklich zu sein, weißt du am Ende gar nicht mehr, was du wirklich fühlst. Alles wirkt künstlich. Aber es ist total frustrierend, wenn man sich an etwas erinnern möchte und es einem nicht gelingt!«
Obwohl er selbst gern redet, ist Cam ein guter Zuhörer. Irgendwie weckt er in mir den Wunsch, ihm alles zu erzählen.
»Trotzdem ist es schön, einen Tag schulfrei zu haben wegen deines Gebrechens«, sagt er.
»Wovon sprichst du?«
»Nimmst du mich auf den Arm oder weißt du es wirklich nicht?«
Ich will ihn in die Seite boxen, aber er springt weg.
»Sag schon.«
»Morgen ist wegen des Gedenktags schulfrei.«
Aus diesem Grund versammelt sich unsere Klasse am Nachmittag.
Nachdem wir unsere Ausweise eingelesen haben, setzen wir uns.
Der Klassenlehrer lässt den Blick durch die Reihen schweifen. »Kann uns jemand sagen, warum morgen keine Schule ist?«
»Gedenktag«, antworten mehrere Stimmen.
»Aber wessen gedenken wir?«
Minutenlang hält er einen Vortrag über die ursprüngliche Bedeutung des Feiertages. Dass es darum gehe, sich an die zu erinnern, die für dieses Land in Kriegen gekämpft hätten und gefallen seien. Allerdings sei das so lange her, dass sich von den Lebenden kaum noch jemand daran erinnern könne. Bei den Opferzahlen könnte einem schwindelig werden. Vor allem heute bei der geringeren Bevölkerung könne man sich das kaum noch vorstellen.
»Und wessen gedenken wir noch?«, fragt er. Aber diesmal wartet er die Antworten nicht ab, sondern schaltet das Licht aus und lässt einen Film laufen. Grauenhafte Bilder sind zu sehen. Ein wütender Mob, völlig außer Kontrolle geraten, schlägt alles kurz und klein, was ihm in die Quere kommt. Die Studentenproteste aus den 2020er-Jahren.
Fensterscheiben werden eingeworfen, Läden geplündert, vielerorts brennt es. Ein Mädchen, das jünger ist als ich, wird schreiend von einer Bande vermummter Jugendlicher weggeschleppt, und obwohl man nichts mehr weiter sieht, kann man sich denken, was mit ihr passiert. Ein alter Mann wird gestoßen und zusammengeschlagen und ein Kind den Armen seiner Mutter entrissen.
Ich schließe die Augen und blende alles aus, bis eine Erinnerung aufblitzt. Nico hat uns denselben Film gezeigt und danach einen anderen.
Diejenigen an der Macht verändern die Geschichte zu ihren Zwecken.
Das hat er gesagt. Die Lorder haben sich sämtliche Beweise von den unkontrollierten Aufständen und der Zerstörungswut der Demonstranten unter den Nagel gerissen, alles in ihrem Sinne zusammengeschnitten und zum Pflichtprogramm erklärt. Nicos Version, in der die Lorder, die damals Polizisten hießen, Studenten geschlagen haben, wird nicht gezeigt. Von den Verletzten und Toten gehen viele auf das Konto der Lorder, aber ihre Mitschuld wurde vertuscht und die Aufständischen dafür verantwortlich gemacht.
Unschuldig waren die Studenten natürlich auch nicht, sie hatten Sachschäden und Verletzungen zu verantworten und viele hatten eine Strafe verdient. Dann sind auch noch Kriminelle und Gangs dazugestoßen und haben geraubt und gemordet.
Doch so einseitig, wie es heute von der Regierung dargestellt wird, war es nicht. Ich frage mich, wie die Geschichte umgeschrieben werden wird, wenn Free UK Erfolg hat und die Lorder niedergeschlagen werden? Als Erstes würden sie wohl nicht mehr »RT«, sondern Free UK heißen. Ein viel angenehmerer Name, bei dem Terrorismus nicht mehr vorkommt.
Ich spüre, wie das
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