Zersplittert: Dystopie-Trilogie Band 2 (German Edition)
Licht wieder angeht, und öffne die Augen. Alle im Raum sind still und erschüttert von der Gewalt, obwohl sie den Film wahrscheinlich jedes Jahr vorgeführt bekommen.
In ein paar Wochen, am 26. November, ist schon der Armstrong-Gedenktag. In diesem Jahr jährt sich der tödliche Anschlag auf den ersten Lorder-Premierminister und seine Frau, Mums Eltern, zum 25. Mal. Sie sind auf dem Weg zu ihrem Landhaus in Chequers umgebracht worden, wo sie ihr fünfjähriges Regierungsjubiläum feiern wollten. Also sind die Lorder jetzt seit 30 Jahren an der Macht. Unser Lehrer erzählt uns von den geplanten Feierlichkeiten.
Feierlichkeiten einer Regierung, die in den Gehirnen anderer herumwühlt und die Seelen von Menschen verbiegt und vernichtet.
Als ich mich auf den Weg zum Parkplatz mache, um mit Jazz und Amy nach Hause zu fahren, geht mir die Ironie des Gedenktages auf: Die Lorder wollen, dass man sich an Menschen erinnert, die vor fast 30 Jahren bei den Unruhen ums Leben gekommen sind. Andererseits lassen sie heute Leute verschwinden und sorgen dafür, dass sie vergessen werden und niemand nach ihnen fragt. Sie stehlen Erinnerungen, wie bei mir.
Auf dass wir niemals vergessen mögen.
»Du bist so still heute«, stellt Jazz fest, während er mich durch den Rückspiegel beobachtet.
»Mir geht’s gut.«
Als wir ankommen, verabschieden sich Jazz und Amy voneinander, und ich verschwinde im Haus.
Amy zieht sich schnell um, während ich ihr eine Tasse Tee mache. Ich reiche sie ihr, als sie runterkommt.
»Danke, Kyla. Bist du dir wirklich sicher, dass alles in Ordnung ist?«
»Ja klar, geh nur.« Sie stürmt raus und die Straße zur Arztpraxis runter.
Als ich allein bin, merke ich, wie still das Haus ist. In meinem Kopf herrscht zu viel Dunkelheit, um allein zu sein. Ich wandere von Zimmer zu Zimmer und setze mich dann schließlich mit meinem Skizzenblock hin. Zwei Stunden lang wird niemand hier sein. Eigentlich will ich die Zeit zum Zeichnen nutzen, doch dann krame ich meine versteckten Zeichnungen der Vornacht hervor, schaue mir die Bilder von Schwester Sally und den anderen an und seufze.
Was sagt das über mich aus? Auf welcher Seite stehe ich überhaupt? Bin ich nicht stark genug, das Richtige zu tun, auch wenn es schwerfällt? Immerhin verdanke ich Nico mein Leben. Nach allem, was er für mich getan hat, darf ich ihn nicht enttäuschen.
Aber wenn ich ihm diese Zeichnungen gebe, was wird dann aus diesen Menschen?
Ich werde heute Nachmittag keine Gesichter zeichnen, sondern das Krankenhaus. Ich habe Nico schon Pläne gegeben, aber irgendwas nagt noch immer an mir. Dr. Lysander ist während des Angriffs so schnell verschwunden. Es muss einen Geheimweg geben – aber wo? Ich beginne, den Flur vor ihrem Büro zu skizzieren.
Weil ich so konzentriert arbeite, nehme ich das Klopfen unten an der Haustür fast nicht wahr. Ich lege den Stift beiseite, ziehe die Vorhänge zurück und schaue hinunter. Ein Lieferant mit einem großen Blumenstrauß steht vor dem Eingang. Vielleicht will Dad sich wieder mit Mum versöhnen?
Ich renne die Treppe runter und mache auf.
»Lieferung für O’Reilly?«, sagt er.
»Da sind Sie wohl falsch. Hier gibt es niemanden, der so heißt.«
Er zieht einen Lieferschein hervor und liest nach. »Janet O’Reilly?«
»Nein, tut mir leid.«
Er verdreht die Augen. »Entschuldigen Sie die Störung. Wissen Sie, wie spät es ist?«
Ich schaue auf meine Uhr, und er tritt näher, um die Zeit abzulesen. Dabei gibt er mir ein kleines Stück Papier, zwinkert und verschwindet.
Als ich die Tür wieder geschlossen habe, falte ich den Zettel auseinander. »Komm zum Aussichtspunkt am Fußweg über deinem Dorf, so schnell wie möglich. Sehr wichtig. Zerstör diesen Zettel. A.«
A…Aiden? Meine Füße sind wie festgenagelt. Ich lese die Nachricht erneut und kann dabei kaum atmen. Mac wollte meine Zeichnung von Ben an Aiden weitergeben, um sie einzuscannen und bei MIA online zu stellen. Und jetzt will Aiden mich sehen.
Ben! Sie müssen eine Nachricht von Ben haben.
Ich schlucke. Sie kann gut oder schlecht sein. Schlecht ist wahrscheinlicher. Aber bei einer schlechten Nachricht hätte mir Aiden doch bestimmt durch Mac Bescheid gegeben. Oder nicht? Er will mich persönlich treffen.
Ich fliege die Treppe hoch, tausche die Schuluniform gegen Jeans und Stiefel und renne zur Tür. Nicht die Hoffnung aufgeben.
Am liebsten würde ich durchs Dorf rasen, aber ich reiße mich zusammen und gehe ganz gemütlich.
Am
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